Walter Kaufmann Archiv

Walter Kaufmann - 
deutsch-australischer Schriftsteller –
wurde 1924 als Sohn einer polnischen Jüdin in Berlin geboren. Im vierten Lebensjahr wurde er von einer jüdischen Familie adoptiert, lebte in Duisburg. Seine Adoptiveltern wurden nach der Reichskristallnacht 1938 verhaftet, kamen ins KZ Theresienstadt und wurden im KZ Auschwitz ermordet. Er floh als Fünfzehnjähriger nach Australien, wo er Soldat, Hafenarbeiter war, zur See fuhr und zu schreiben begann. 
Walter Kaufmann, der seine Werke in der Regel in englischer Sprache schreibt und diese ins Deutsche übersetzen lässt oder selbst übersetzt, ist Verfasser von Romanen, Erzählungen in der Tradition der angloamerikanischen Short Story. Für die Stoffe seiner Erzählungen greift Kaufmann auf Erlebnisse aus
seinem bewegten Leben in Europa und Übersee zurück. Seine Reportagen behandeln vor allem die von Bücher über sein Schicksal als jüdischer Emigrant.
1956 kehrte er nach Deutschland zurück, wo er für seine literarischen Werke den Heinrich-Greif-Preis“ und den „Fontane-Preis“ erhielt.
1959 erhielt er den australischen „Mary-Gimore-Award“ zugesprochen und 1993 wurde ihm für sein Gesamtwerk der „Literaturpreis der Ruhrgebietes“ verliehen.
Walter Kaufmann ist Mitglied des deutschen Pen-Zentrums uns war von 1985 1993 dessen Generalsekretär.

Walter Kaufmann lebt in Berlin.

 

Frühstück in Warschau
 
Die Stadt lag unter einer Dunstglocke, es war heiß und schwül, und der Regen, der am Abend aus dunklen Wolken niederging, brachte wenig Linderung. Die Schwüle blieb. Der Regen war zu einem Dauerregen ausgeartet und verbot jeden Gedanken, das Hotel zu verlassen. Das Haus war heruntergekommen, verdiente längst nicht mehr seinen hochtrabenden Namen, noch die ihm zugestandenen vier Sterne. Im schmucklosen Speisesaal, wo es kaum weniger schwül als draußen war, fand ich mich bald zwischen leeren Tischen. Nur an einem saß eine ältere Dame, die mich aufmerksam musterte. Vom Kellner abgelenkt, der meine Bestellung erwartete, nahm ich die Frau nur flüchtig wahr. Sie mochte siebzig sein, älter vielleicht mit ihrem weißen Haar, wirkte aber nicht ältlich, Sah ich zu ihr hin, trafen sich unsere Blicke. Sie schien sich einsam zu fühlen. Es berührte mich, doch nach Geselligkeit stand mir nicht der Sinn, und bald nach dem Essen zog ich mich auf mein Zimmer zurück.
Am Morgen hatte sich meine Stimmung nicht gehoben. Noch nimmer regnete es, schwül war es weiterhin und trist der Anblick über die Dächer der Stadt – eine Steinwüste zersetzt von Lichtreklamen und grauen Wolken. Als ich vom Frühstücksbüffet zu meinem Tisch zurückkehrte, hatte die alte Dame vom Abend zuvor dort Platz genommen. Sie nickte mir zu wie eine alte Bekannte und bald empfand ich sie auch so - sicher seien wir gleicher Herkunft, meinte sie sogleich, und da ich englisch spräche, sei wohl auch ich bei Kriegsende nach England ausgewandert. Für sie, so erfuhr ich, hatte sich England als eine wahre Zuflucht erwiesen - nach allem, was sie durchgemacht hatte.
„So tolerant die Menschen dort. In der ganzen Nachbarschaft nicht die Spur von Feindlichkeit gegen Juden oder sonst wen."

Wo sie denn aufgewachsen sei, fragte ich sie.

„In einem ukrainischen Schtetl an der Styr. Nicht weit hinter der polnischen Grenze"

Dorthin wollte sie noch einmal, ehe sie die Kräfte verließen. Im Krakauer und Warschauer Ghetto sei 214

sie schon gewesen, nun blieb nur noch ihr Schtetl an der Styr. Das verstand ich. Auch ich hatte nach all den Jahren im Ausland das Scheunenviertel von Berlin erforscht, Auschwitz ertragen und das einst von Den Nazis verwüstete Duisburger Elternhaus aufsuchen müssen.

„Die Kinder wollten nicht:, dass ich fahre", sagte sie, „Channele nicht, auch nicht mein Amnon - Mama, wozu? Was tust du dir da an. Aber ich muss. Für meine Eltern, die Brüder, die Schwestern , die alle untergegangen sind in der Shoa."

Ihre Augen blickten traurig, dunkle traurig blickende Augen.

„Ich versuche zu verzeihen ohne Bitterkeit".

Ihre Uhr am Handgelenk wies ihr die Zeit - sie schien in Eile geraten zu sein.

„Und doch - es ist schwer so ganz allein, schwer... lebte mein Mann noch../'

Wieder blickte sie mich an, und mir kam der Gedanke, sie auf dieser Reise in die Vergangenheit zu begleiten - warum nicht? Was eigentlich hielt mich hier. Ich schlug ihr vor, was ich dachte. Sie glaubte nicht daran - es war ihr anzumerken.

„Das würden Sie tun - wirklich?" - sagte sie zweifelnd.

Ich nickte, doch offen blieb, ob sie es mir glaubte.

„Wie kommt es, dass von allen nur Sie überlebt haben?"  - fragte ich leise.

Ich spürte ihre wachsende Unruhe. Sie musste aufbrechen. Und in den wenigen uns noch bleibenden Minuten sehe ich den Güterzug mit den Viehwagen aus dem Städtchen an der Styr in die Nacht rollen, höre den Schlag der Räder auf den brüchigen, buckligen Schienen, und die Schläge lösen den Verschluss der Tür, neben der sie kauert, und sie, die Sechzehnjährige, zwängt sich durch die plötzlich entstandene Öffnung, lässt sich vom Zug fallen, wird von dein fahrenden Zug aufs Schotterbett geschleudert und die Böschung hinunter ins Strauchwerk, liegt dort zerschunden - und der Zug rollt weiter in die Nacht...

„Mein Elternhaus, die Straßen meiner Kindheit, das schattige Plätzchen unter den Weiden am Fluss, der Bahnhof von damals, und das Abstellgleis, wo an jenem Abend der Güterzug auf uns wartete - die Hütte im Wald will ich noch einmal sehen, die mein Versteck war, und ob es den Jurek noch gibt, der mich am Leben hielt..."

Der Kellner unterbrach sie, sie verstummte, und in der Zeit, die sie zum Zahlen brauchte, festigte sich mein Entschluss: Ich werde mit ihr gehen.

Und nur der Umstand, dass ich für die Ukraine ein Visum brauchte, das in der Eile nicht zu beschaffen war, verhinderte die Reise.

Krakauer Fotografien

Von der Marienkirche her kam der Japaner schräg über den Marktplatz auf das Cafe zu, wo wir saßen. Die Linsen seiner Brille glitzerten in der Sonne, und wen er suchte, wurde erst deutlich, als er sich vor mir verbeugte und mir seine Karte gab. Neben den Namen hatte er das Wort POET geschrieben.

„Are you jewish?" fragte er leise.

In meiner japanischen Zeit hatte es für solche Frage nie Anlass gegeben - Jetzt aber hier in Polen, wusste ich gleich den Grund. Ich nickte und sagte:

„Richtig, das bin ich"

Da verbeugte er sich wieder und bat höflich, mich ablichten zu dürfen -

„Please, Sir, right here where you are sitting".

Ich ließ ihn gewähren. Er war mir in guter Erinnerung, denn eine Woche zuvor war er mir aus dem Reisebus gefolgt, den ich, zum Unwillen des polnischen Reiseleiters, vor dem Warschauer Ghetto- Mahnmal hatte anhalten lassen. Schweigend hatte der Japaner neben mir beim ewigen Feuer verharrt, das in der Schale loderte, und dort abgewartet, bis ich zum Bus zurückkehrte... Sein Foto sollte das einzige bleiben, das ich aus Kra-kau vorweisen kann - denn just hier, in dem Cafe am Markt, wurde mir aus der Jackentasche meine Kamera gestohlen, was ich erst beim Rundgang durchs Krakauer Ghetto bemerken sollte: Weg das teure Gerät samt aller Aufnahmen vom Königsschloss, den Tuchhallen, den Kirchen, dem Krakauer Florianstor. Um so schärfer aber erwies sich fortan mein Blick. Das Auge ersetzt die Kamera. Die geduckten alten Häuser diesseits und jenseits der Ghettomauern prägten sich mir ein. Die kleinen Gaststätten am Platz mit den gedeckten Tischen im Schatten der Vorhöfe und der hebräischen Schrift über den Eingängen, und jenseits des Platzes das rotbraune Gebäude der Synagoge, die wie durch ein Wunder der Zerstörung entgangen war.

Beim Durchqueren der Synagoge, die geplündert worden war und sich in ihr Leere düster darbot, mit fleckig-grauen Wänden, von denen Putz bröckelte, kam ich zu einem Nebenraum mit Aufnahmen von der Verschleppung der Juden aus dem Ghetto. In den dunkelhaarigen schmächtigen Judenjungen, die in dem langen Zug ausgemergelter, zerlumpter Menschen zu erkennen waren, sah ich mich selbst, ich sah Frauen mit dunklen ausdrucksvollen Augen wie die meiner Mutter, und jäh begriff ich, wie schmal der Grad war zwischen meinem und dem Schicksal dieser bedrängten Juden, die von breitbeinig aufgereihten Soldaten in den Tod getrieben wurden.

Unter all den Aufnahmen entdeckte ich eine, die mich länger als die anderen festhielt. Auf einen Hauklotz, wie Bauern ihn zum Holzspalten brauchen, war ein kleiner bärtiger Jude gezwungen worden, dass ihm mühelos zwei hünenhafte Soldaten zum Gaudium ihrer Kameraden mit großen Scheren den Bart stutzen konnten. Das Kinn starr vorgeschoben, mit in sich gekehrtem Blick, ließ der alte Mann die Schmach über sich ergehen, und je länger ich mich in das Foto vertiefte, je lauter hörte ich die Soldaten grölen, die zwei sich vor Lachen biegenden Täter mit den Füßen stampfen. Plötzlich war mir, als sei ein Teil meines Daseins darauf ausgerichtet gewesen, nie je auf Geheiß von irgendwem den Hackklotz zu besteigen. Die Vorstellung verflüchtigte sich, kaum dass sie mir gekommen war. Zurück blieb aber ein Gefühl der Erfüllung, das Echo eines gelebten Widerstandes.

 

DER KOMPONIST SERGEJ KOLMANOVSKIJ

    STELLT SEIN DEM GEDENKEN AN REICHSKRISTALLNACHT GEWIDMETES ORATORIUM „TRAUERGESÄNGE“ VOR. DIE TEXTE SIND VOM ÖSTERREICHISCHEN DICHTER PETER PAUL WIPLINGER.

    www.besucherzaehler-homepage.de