Vladimir Etin

 

Vladimir Etin wurde 1939 in der Ortschaft Tscherwoni Wikna im Gebiet Odessa, Ukraine geboren. Hochschulabschluss in Moskau. Von Beruf Biologe, Teilnehmer der vielen wissenschaftlichen Expeditionen.
Publikationen auf wissenschaftlichem Gebiet. Mitglied der Moskauer Gesellschaft für Naturforscher, der ältesten ihrer Art in Russland. Betreibt professionelle Kunstfotografie. Lebt seit 2002 in Potsdam. Mitglied der „Literarisch-künstlerischen Werkstatt „Potsdam“.

Am 6 Februar 2015 ist Vladimir Etin verstorben.

 

 

Aus den Aufzeichnungen eines Feldbiologen
Das Märchenschloss aus weißem Nebel

                                                           „Besser als die Berge sind nur  jene Berge,
                                                         auf denen man noch  nicht gewesen ist.“
                                                                                                            (W. Wyssozki)  
                                                                                       

Auf der Reise durch das Land der Märchen, im Zusammensein mit den Helden der Geschichten erleben Kinder reine Glückseligkeit, Erwachsene übrigens auch. Im Märchen nämlich kann man tun und lassen, was man will, ohne dafür eine reale Verantwortung zu tragen.
Jetzt aber zu einer anderen Geschichte, der Geschichte darüber, wie ich in das wunderschöne, märchenhafte Land Kabardino-Balkarien kam und wie dieses Märchen real, schrecklich und gefährlich wurde. Aber erzähle ich der Reihe nach. Meine Ankunft in der Stadt Naltschik war schon allein so eindrücklich wie all das zusammen, was ich noch erleben sollte. Ein halbes Jahr zuvor hatte der Chef mir gesagt: „Für unsere Forschungen benötigen wir Fledermäuse. Schreibe 50 Standardbriefe und schicke sie an  Stellen innerhalb der UdSSR, in deren Umgebung sehr wahrscheinlich Fledermäuse zu finden sind. Je nachdem, wie die Antworten ausfallen, entscheiden wir, wie wir weiter vorgehen werden.“
Ich schrieb die Briefe und schickte sie ab. Ich erhielt drei Antworten. Der Brief von der Universität Kabardino-Balkarien klang vielversprechend: Der Lehrstuhlleiter der Fakultät für Zoologie lud mich zu einer geführten Expedition ein. Er bat mich, die Ankunftszeit per Telegramm mitzuteilen, was ich auch tat. Und so machte ich mich eines Tages auf den Weg. Naltschik, Hauptstadt Kabardino-Balkariens, Bahnhof. Ich stehe auf dem Bahnsteig mit acht Gepäckstücken in zwei Händen: zwei Kisten für den Transport auf Lasttieren, zwei kleine „Särge“ aus Zink für die spätere Aufbewahrung der mit Formalin
einbalsamierten Fledermäuse und Rucksäcke mit Lebensmitteln, die es zu jener Zeit nur in Moskau zu kaufen gab.
Komplettiert wurde das Ganze durch eine Doppelflinte. Keine Ahnung, wozu ich die mitgenommen hatte.
Jemand hatte mir beim Aussteigen geholfen. Und so stand ich nun da mit dem vielen Gepäck.
Die Passagiere eilten auseinander, der Zug fuhr davon. Ich blieb allein zurück im Bahnhofsgetümmel.
Und niemand kam, um mich abzuholen.
Ich ließ all meine Habe auf dem Bahnsteig zurück, nahm auch meinen Filzhut ab – ein Geschenk meines Vaters - mit dem ich aussah wie ein kaukasischer Freiheitskämpfer aus den Bergen (von denen gab es hier wahrlich genügend, dachte ich mir) und machte mich auf die Suche nach einem Kleintransporter. So würde es billiger werden, denn in einen einzigen PKW würde das Gepäck nicht hinein passen. Ich war bisher immer auf gute Menschen getroffen, auf allen meinen Forschungsreisen.
Und ich hatte auch dieses Mal Glück. Beinahe gleich der erste junge Mann, den ich traf, antwortete mir auf die Frage, wie man zur Universität kommt, dass er Student dieser Universität sei und fragte mich, wie er mir helfen könne. Schon bald kamen wir auf gemeinsame Moskauer Bekannte zu sprechen. Er sagte, dass er Safar Effendijew heiße, dass er den Moskauer Professor Kusjakin kenne, den Verfasser der einzigen Monographie über Fledermäuse. Nachdem er vom Ziel meiner Reise erfahren hatte, meinte er, dass er an diesem Lehrstuhl studiere und dass die Expedition, zu der sein Lehrstuhlleiter mich eingeladen hatte, schon vor drei Tagen aufgebrochen sei. Niemand war da, der mir die Frage, wie denn das sein könne, beantworten konnte.
Mit der sprichwörtlichen kaukasischen Gastfreundschaft half Safar mir weiter: er organisierte einen Transporter, wir luden das Gepäck auf und 15 Minuten später befanden wir uns in der Universität am Lehrstuhl. Ich machte es mir auf den Tischen im Hörsaal der Zoologie wohnlich zurecht (schlief auf zwei langen zusammengestellten Tischen im Schlafsack und musste am Morgen gegen acht den Raum verlassen, bevor die Vorlesungen für die Studenten begannen).
Am folgenden Tag erfuhr ich, dass selbiger Lehrstuhlleiter es versäumt hatte, mich darauf hinzuweisen, dass man für das Betreten der Grenzgebiete einen extra Passierschein benötigt.  Zu versuchen, jetzt noch die Expedition einzuholen, hatte keinen Sinn. Die Dienstreise, der Forschungsauftrag – wie sollte es nun weitergehen? Ich war ja nicht darauf vorbereitet, auf eigene Faust Erkundungen in diesem mir unbekannten Land des Kaukasus’ vorzunehmen. 

So begann also mein Leben in Naltschik. Safar lud mich zu seinem Bruder ein, der in einem kleinen Dorf in der Nähe der Stadt Tyrnyaus, in der Baksanschlucht wohnte. Tyrnyaus ist unter Geologen und Bergsteigern weithin bekannt. Am frühen Morgen des nächsten Tages verließen wir das Haus. Nachdem wir eine kurze Wegstrecke entlang des Baksan-Flusses  gegangen waren, wies der Bruder Safars auf einen Pfad, der in die Berge führte und sich irgendwo in der Höhe verlor. Er erklärte mir noch einmal, wie man zu der Höhle kommt, in der ich garantiert „Millionen“ Fledermäuse finden würde, wünschte mir reiche Beute und verabschiedete sich mit dem Versprechen, dass ich für meine Rast die Hütte nutzen könne, die als Unterstand für die Schafe diente und in der die Schafhirten übernachteten. Diese würden mir zu essen und zu trinken geben, mir den Weg weisen und mir bei allem, was ich bräuchte, hilfreich zur Seite stehen. So schien also alles geregelt zu sein. Die nun folgenden Ereignisse allerdings belehrten mich eines Besseren.
Mit meiner umgehängten Wandertasche, in der ein Heft und ein Päckchen mit Würfelzucker steckten – als Rüstzeug für alle Fälle, überquerte ich den gefährlichen und tosenden Gebirgsstrom. Ich legte den Kopf in den Nacken, erkannte den nach oben führenden Pfad für die Schafe, ein löchriger, schmaler Streifen, der sich an einem Felsmassiv entlang schlängelte. Ich blieb stehen, zögerte. Hatte ich Angst? Sehr sogar. Wozu mir etwas anderes einreden?
Aber die Schafhirten und die Schafe nutzten ja auch diese schmale Serpentine. Fürchtete ich mich? Ich fürchtete mich vor nichts. Und so trugen mich meine Füße immer weiter den Weg entlang, dem Himmel entgegen. Ohne nach unten zu schauen, wo der gewaltige Baksan dahin rauschte, lief ich  drei ein halb Stunden ohne Unterbrechung bergan. Einmal jedoch konnte ich der Versuchung nicht widerstehen und blickte in die Tiefe. Erschrocken wich ich zurück und drückte mich mit der Schulter gegen die Felswand.
Irgendwann endete dieser schmale Weg an der Felswand und vor mir breitete sich ein kleiner, grasbewachsener Platz aus.
Ich trat auf ihn hinaus. Niemand war zu sehen. Ich rief einige Wörter auf Balkarisch, die Safar mir beigebracht hatte – Stille. Ich ging einen Weg entlang zu einer aus Staketen gefertigten Umzäunung für die Schafe. Auch dort war alles still und verlassen. Keine Schafe, die Schäferhütte leer. Niemand war da, den ich hätte fragen, der mir hätte weiterhelfen können. Aber Safar hatte mir doch versprochen, dass man mir helfen würde! Was sollte ich tun?
Unverrichteter Dinge umkehren? Das wäre überaus ärgerlich! Also vielleicht doch lieber versuchen, allein
weiterzuwandern und irgendetwas Spannendes zu entdecken?
In mein Heft zeichnete ich den Verlauf der Pfade, wie sie vor mir auseinander liefen, warf einen Blick auf die Sonne (ich hatte nicht mal einen Kompass bei mir). Die Lage, in der ich mich jetzt befand, war von mir nicht vorgesehen gewesen. Ich blickte mich noch einmal um und setzte dann meine Wanderung fort. Der Tag wurde immer sonniger, der graue Himmel klärte sich auf und wurde strahlend hell. Das war sehr wohltuend. Es wurde wirklich spannend für mich, als ich dem Pfad von der leeren Schäferhütte zu einem Plateau und darüber hinaus folgte.
Die gastfreundlichen Schafhirten, die in der Regel wussten, dass ein einsamer Wanderer hier kein Tourist, sondern ein Mensch bei seiner Arbeit ist, begegneten ihm zuvorkommend, teilten mit ihm ihr Essen, bewirteten ihn mit einem Stück Tscherek (das von ihnen selbstgebackene Brot) und einer Schale Ayran (ein dickflüssiges Joghurtgetränk).
Das konnte es zum Frühstück, Mittag- und Abendessen geben, war aber vollkommen ausreichend. Mich erwartete wohl niemand.
Ich hatte nur den Würfelzucker bei mir. Was blieb mir also anderes übrig, als mich schließlich hinzusetzen und einige Stückchen davon herunter zu kauen. Während ich meine Wanderung fortsetzte, fertigte ich sorgfältige Wegeskizzen an. Ich tat gut daran, denn in einiger Entfernung bildeten sich durch Hügel und Felsen viele Wegegabelungen, die von Büschen und Gras überwuchert waren. Stellenweise machte der Weg plötzlich eine scharfe Biegung nach rechts oder links und mir kamen angstvolle Gedanken: Hier gab es doch den Schneeleoparden. Das hatten mir Jäger aus Naltschik erzählt. Er könnte plötzlich aus dem Dickicht hervor springen und einen Menschen, der diesen Pfad entlang geht, anfallen.
Wie war einem dann zu helfen? Der selbstgefertigte Dolch, der an meinem Gürtel steckte, würde beim Kampf gegen ein solches Tier nichts ausrichten. Wie dem auch sei, ich ging weiter – in äußerster Anspannung, mit offenen Augen und Ohren. Auch vor der Begegnung mit einem Keiler musste man sich hier hüten. Er konnte aggressiv werden, aus Angst einen Menschen angreifen. Und der Weg war ja so schmal. Aber ich beschloss, nicht in Deckung zu gehen, sondern auf dem Weg zu bleiben. Von Zeit zu Zeit hielt ich an und stellte fest, von woher die Sonne kam. Irgendwann war die Sonne von
feinen weißen Nebelschleiern umhüllt.
Ich setzte meine Wanderung fort. Aber wohin sollte ich gehen? Wo war der besagte Felsen mit der großen Höhle?
Kein Felsen, keine Höhle. Inzwischen war überhaupt nicht mehr klar, wohin ich gehen sollte. Irgendwann gelangte ich zu einer Stelle, an der von meinem Weg ein weiterer kleiner Pfad abzweigte, der um einen Hügel herum führte.
Ich ging in diese Richtung um nachzusehen. Es könnte ja sein, dass sich hinter diesem Hügel etwas Spannendes verbarg...

Zwei Tage zuvor, als ich in der Bergschlucht von Tschegem war, wagte ich mich, allen Gefahren zum Trotz, einen langen, steil nach oben führenden Hang hinauf, der aussah wie die Dachseite eines riesigen Landhauses, mit einer glatten, strohgedeckten Oberfläche. Ich hielt mich die ganze Zeit über auf der rechten Seite, wählte sorgfältig Halt für Halt, griff mit meinen Händen nach kleinen Sträuchern. Es kam vor, dass die Füße abrutschten. Aber Schritt für Schritt arbeitete ich mich weiter voran. Eine einzige Frage trieb mich an: Was gibt es dort oben zu sehen?
So erreichte ich unter großer Anstrengung den Gipfel und fand mich im wahrsten Sinne des Wortes auf dem Dach der Welt wieder. Ich war tatsächlich ein großes Risiko eingegangen. Sehr leicht hätte ich von diesem rutschigen „Dach“ abgleiten können. Und unter mir gab es nur den schmalen Weg über dem Abgrund. Aber ich wurde für meine Hartnäckigkeit belohnt. Eine märchenhafte Schönheit eröffnete sich vor meinen Augen: majestätische Berge, spitz zulaufende Gipfel, und über all dem thronte ich... Wie es bei Puschkin heißt: „Der Kaukasus liegt mir zu Füßen. Ich steh’ In Gletschern am Absturz...“*  
Besser kann man das Gefühl nicht ausdrücken, von dem man beim Anblick eines so erhabenen Panoramas ergriffen wird.
An den Abstieg dachte ich erst, als meine Begeisterung wieder nachließ. Der Abstieg war wesentlich schwieriger zu meistern als der Aufstieg. Nachdem ich wieder hinabgestiegen war, hockte ich mich auf den schmalen Weg über dem Abhang und blickte nach unten. Das hätte ich besser nicht tun sollen, denn ein „Unten“ als solches war nicht zu sehen.
Die Berge sind immer eine ernst zu nehmende Sache. Bei jedwedem Aufstieg muss man immer auch an den Abstieg denken.
Aber was sollte ich in meiner jetzigen Situation tun? Wie konnte ich zurück finden, ohne mich zu verlaufen?
Ich hatte noch nicht zu Ende gedacht, als ich bemerkte, dass das Sonnenlicht sehr schwach geworden war.
Der Himmel wurde immer grauer... Die Luft um mich herum schien sich plötzlich zu versilbern. Ich schaute nach oben. Vom Himmel herab senkten sich milchig-weiße Luftmassen. Es verging keine Minute und mich umhüllte weißer dichter Nebel.
Nach nur einer weiteren Minute konnte ich meine Fingerspitzen am vorgestreckten Arm nicht mehr erkennen. Nur keine Panik! Das kennst du doch schon, sagte ich mir selbst. In der Grönlandsee war es mir zweimal „vergönnt“ gewesen, in ein dichtes Schneetreiben zu geraten und auf Mangyschlak mussten wir anderthalb Wochen in dichter, weißer „Milchsuppe“ ausharren... Ich sollte umkehren. Jetzt ging ich viel langsamer als zuvor, dazu auch noch in unbekannte Richtung. Ich tastete mich wie ein Blinder voran. Bewegung in „Milchsuppe“ eben, wie es in der Seemannssprache heißt. Auf einmal zerriss ein heftiger Windstoß die  Nebelmassen und ließ einen Sonnenstrahl hindurch. Für einen Augenblick erstand vor meinen Augen ein wundervolles, märchenhaftes Bild: Ich befand mich in einem Schloss aus weißem Marmor, umglänzt vom matt-kristallenen Licht des bläulich schimmernden Eises, im Reich der Schneekönigin, und ich kam mir vor wie Kai, der Held aus dem Märchen von Andersen.
Doch bald schon legte sich der Wind und ich war wieder von milchiger Dämmerung umgeben.
Wie und wohin sollte ich gehen? In meinem Arbeitsleben als Biologe hatte ich schon öfter
„in der Klemme“ gesessen, einige Male wäre ich fast ertrunken, schwamm dann mit letzter Kraft ans Ufer, in der Taiga verirrte ich mich, ging aber nicht „verloren“. Und jetzt? In solch einem wunderschönen Märchen dürfte mir eigentlich nichts Schlimmes passieren! Die Zeit verging, ringsum blieb alles weiß in Weiß.  Langeweile konnte gar nicht aufkommen: Die verschiedensten Bilder wechselten sich vor meinen Augen ab. Die Sträucher und Gräser schienen im milchigen Raum zu schweben, ihre Verbindung mit dem Boden war nicht zu sehen.
Als sich die Nebelschleier etwas auflösten, ging das Weiß in ein Violett über, die Sträucher und das
Gras schwammen im violetten Nebel. Dann rührte der Wind an den weißen Wolkenmassen, neben mir trat ein Baum in Erscheinung, gleich dem Baum der Erkenntnis: Die Zweige waren mit halbdurchsichtigen, schwingenden Früchten behangen, die aus dem Nebel zu wachsen schienen. Noch einige Male brachen die Sonnenstrahlen hindurch, die verschiedenfarbigen Strahlenbündel tauchten alles um mich herum in ein märchenhaftes Licht, bemalten das Schloss der Schneekönigin mit vielerlei Farben. Aber einen Augenblick später verschwanden die Sonnenstrahlen und alles wurde wieder weiß. Dieses Märchenschloss schien für mich zum Verhängnis zu werden. 
Ich weiß nicht, wie viele Stunden vergangen waren... Plötzlich hörte ich von rechts ein seltsames Geräusch.
Ich strengte mein Gedächtnis an. Woran erinnerte es mich? Das war kein Vogel, kein wildes Tier. Ich hatte keine Idee, was das sein könnte. Ich ging auf das Geräusch zu, was mal anschwoll, mal abebbte, als wollte es mich anlocken.
Ich ging einen weiteren Schritt nach vorn und erstarrte: Der Fuß hing in der Luft. Der Wind zerriss für einen Moment den unglaublichen Nebel und ich erblickte einen Hubschrauber, der tief unter mir im Nebel vorbei huschte.
Ich stand am Abgrund ... Am Rande der Felswand, am Rande des Lebens. Ich schwankte zurück und fiel ins Gras.
Es blieb mir keine Zeit mich zu erschrecken. Der Schrecken ergriff mich erst später. Als ich zur Besinnung kam, verstand ich: Mich hatte das Geräusch des fliegenden Hubschraubers gerettet, das aus der Tiefe zu mir gedrungen war.
Durch die dünne Luft hatte der Hubschrauber nicht weiter aufsteigen können. Jetzt sah ich auch einen Weg, der nach unten führte. Wieder tastete ich mich ganz langsam vorwärts, bewegte mich auf den Weg zu, tauchte aus dem Nichts wieder auf. Plötzlich hörte ich unter mir ein lautes Krachen: Das musste vom Hubschrauber her gekommen sein.
Später erfuhr ich, dass die beiden Piloten wie durch ein Wunder gerettet wurden. Und auch ich kehrte lebend aus dem Märchenschloss zurück.

Postskriptum: Einige Monate später sollte ich die Suche nach der Höhle wiederholen, noch vor
Einsetzen des Schneefalls. Aber wieder wurde nichts daraus: Es begann zu schneien und es schneite überaus reichlich.

*Puschkin, Alexander Sergejewitsch (1947): Gedichte, Poeme, Eugen Onegin.
Hg. v. W. Neustadt. Berlin: SWA Verlag. Übersetzt von F. Fiedler


                                                                    (Übersetzung ins Deutsche Mirjam Appel)

Gewitter in der Wüste Kysylkum                                         
(in Auszügen)

Wie immer haben wir bereits in der Morgenfrische die Richtungen bestimmt und dann  die Marschrouten angetreten. In der Wüste herrscht im Frühling  Morgenfrost.
Später strömt das Leben auf der Sandoberfläche mit erstaunlicher Aktivität. Beim Laufen schauen wir aufmerksam zu Boden. Wir bestimmen die Ameisenarten, um zu wissen, ob sie für unsere Aufgabe von Interesse sind.
In der Ferne taucht ein für diese Gegend ungewöhnlicher Hügel auf, der uns neugierig macht. Die ständig zunehmende Hitze drückt alles, was fleucht und kreucht in den Sand, rundköpfige Eidechsen und andere Reptilien. Alle Tiere, die es können, haben sich schon in die Tiefe gegraben, wo es noch kühl ist. Nicht einmal Schlangenspuren sind auf dem Sand zu erkennen.
Wir glauben in der heißen Luft zu schweben. Schweißnass sind wir unter unseren Allwetterjacken. Bei dieser Glut gelingt es auch unserer Einbildungskraft nicht, uns wenigstens für einige Augenblicke an die vorangegangene Grönland-Expedition zu erinnern und Abkühlung vorzugaukeln. Bei der Lufttemperatur von etwa fünfzig Grad Celsius hilft nur der heiße, starke Tee aus der Feldflasche.
Plötzlich zieht eine Wolkenschicht  über die Sonne. Es wird merklich kühler. Eine kleine, nicht deutlich umrissene Wolke lässt ein paar Regentropfen fallen.
Wir sind jetzt seit zwei Stunden unterwegs, haben ein Stück Salzerde überquert, sind über spaltigen Lehmboden gegangen, haben die langweilige und unfreundliche Halbwüste hinter uns gelassen und befinden uns plötzlich in einer lebendigen Wüste. Als hätten wir eine unsichtbare Schwelle übertreten. Frühjahrswildheit beherrscht hier das Leben. Das Gesträuch schimmert grün. Alles Getier ist aus den Verstecken gekrochen und beeilt sich, Nachkommenschaft zu hinterlassen. Der Himmel über uns ist wieder wolkenlos und graublau. Nichts deutet auf eine Überraschung hin.
Wir erreichen den Hügel, besteigen ihn und stehen vor einem islamischen Friedhof. In dessen Zentrum steht ein kleines „Masar“,  das Gegenstück einer orthodoxen Kapelle. 
Oben sehen wir uns um, drehen unsere Köpfe wie Drehhalsvögel um dreihundertsechzig Grad. Soweit das Auge reicht keine Spuren von Menschen. Ringsum unberührte Wüste mit lichtem Pflanzenwuchs, Bäumchen, Sträucher, Gräser.  Die Sandinseln dazwischen wirken wie riesige gelbe Fenster mit grünen Umrahmungen, auf denen die Sonnenstrahlen liegen. Irgendwo rechts von uns weiß ich den Syr Darja, und für Augenblicke meine ich, sein Wasser zu riechen.
Wir betreten das „Masar“ durch die unverschlossene Tür, deren Bänder knarren und  uns verraten, dass diesen Raum lange Zeit niemand betreten hat. Wir befinden uns in einem runden, lichten Raum von sechs bis sieben Metern Durchmesser, überwölbt von einer Kuppel, die etwa dreieinhalb Meter hoch ist. An den Wänden entdecken wir dunkelblaue Zeichnungen, die gut erhalten sind. Während wie sie schweigend mustern, wird es auf einmal dunkel im Raum. Wir verlassen das Gebäude, um uns zu orientieren. Die Sonne ist verschwunden. Der Himmel scheint sich zu teilen. Ein Abschnitt bleibt klar und am anderen tauchen wulstige Gebilde auf, die mich an Wolken aus dem mittelrussischen Raum erinnern. Dann durchzuckt den sattvioletten Himmel ein Blitz, dem ein zweiter folgt, und nach einigen Sekunden dröhnt es als bräche das Weltall auseinander. Kurz darauf stürzt eine Wasserwand auf die Erde herab, gegen die das Tosen des ‚Niagara – Falles’ eine Romanze ist.
Wir kehren ins  „Masar“ zurück, an dessen Wänden herab Wasseradern rinnen. 
Im Schein des nächsten Blitzes schaue ich auf meine Uhr; elf Uhr und fünfzehn Minuten. Fast ununterbrochen donnert es. Wir stellen uns im Zentrum des „Masar“ unter die Kuppel, wo es noch trocken ist. Wir stehen und schauen durch die halb geöffnete Tür auf die fließenden Wasserströme am Eingang. Riesige Luftblassen tanzen, platzen, wenn sie von den vertikalen Strahlen aus großer Höhe getroffen werden. Auf einmal gesellen sich neue Geräusche in den Lärm, ein rasselndes Klopfen und Schlagen. Wind stößt die Tür völlig auf und schüttet Wallnuss große Hagelkörner über die Schwelle herein. Nach fünfundvierzig Minuten hört das Gewitter  eben so plötzlich auf wie es begonnen hat. Die Wände des „Masar“ sind so dunkel geworden, dass von den Zeichnungen kaum noch Einzelheiten zu erkennen sind.
Wir verlassen unser ungewöhnliches Versteck. Nach wenigen Minuten hat sich die Natur beruhigt. Gleich brennt die Sonne wieder. Aus dem vor Nässe dunklen Sand  steigt Dampf, als würde die Erde in vielen Töpfen Mittag kochen.
Um die Gräber des alten Friedhofes entdecken wir schwarze Kreise, die dunkler sind als die Gänge zwischen den Grabstätten. Für diese Erscheinung finde ich keine wissenschaftliche Erklärung. Vielleicht hat das für die Wüste ungewöhnliche Gewitter den Toten für kurze Zeit ermöglicht, die Gräber zu verlassen, sich umzuschauen auf der Erde,  um zu erfahren, wie und ob wir ihr Vermächtnis bewahrt haben. Wer weiß das! 
Nach einer knappen Stunde, sind auch diese Kreise wieder verschwunden.
Wir gehen weiter, verlassen den Hügel, suchen nach Nestern begehrter Ameisenarten und sammeln die Tiere sorgfältig in der „Beize“, einem kleinen Spezialglas. 
So verlief ein Tag im Leben eines Feldbiologen.


(Interlinearübersetzung ins Deutsche Natalia Liebers)
(Nacherzählt von Walter Flegel)

DER KOMPONIST SERGEJ KOLMANOVSKIJ

    STELLT SEIN DEM GEDENKEN AN REICHSKRISTALLNACHT GEWIDMETES ORATORIUM „TRAUERGESÄNGE“ VOR. DIE TEXTE SIND VOM ÖSTERREICHISCHEN DICHTER PETER PAUL WIPLINGER.

    www.besucherzaehler-homepage.de