Susanna Langmann

 

Susanna Langmann (Yadushliver)
wurde in der Stadt Balta, Odessa Region geboren, wo die Besatzung im Ghetto überlebte. Sie absolvierte in 1961 Bäckerei-Fakultät von Technisch-Kooperativer Fachschule in Chisinau. Im Jahr 1968 absolvierte Susanna die Wirtschaftsabteilung der Odessa Institute von Technology namens M. Lomonosov. 28 Jahre arbeitete sie als Wirtschaftler bei dem Maschinenbau-Betrieb in Odessa. Sie hat zwei Töchter. Seit 1991 lebt sie mit ihrer Familie in Deutschland. Zahlreiche Veröffentlichungen in deutsch-russischen Zeitungen und Zeitschriften wie "Alef", "Der Löwe", "Jüdische Rundschau" sowie in der Sammlung der Gefangenen des Ghettos "Wer überlebt, der kann erzählen..." 

 

Aus den Erzählungen über die Kindheit im Ghetto (Stadt Balta)

Es verließen das Leben die Eltern, Großväter und Großmütter.
Es gehen Brüder und Schwestern.
Sie gehen ohne uns vom Überlebten erzählt zu haben.
Unmittelbar nach dem Krieg erzählten sie nicht, weil dies jene Zeit war, in welcher die Sowjetmacht den Leuten, welche die Okkupation überlebten, Beliebiges "andichten" konnte. Sogar Juden wurde Spionage zum Nutzen Deutschlands "angedichtet".
Weder damals noch später berichteten sie auch noch deshalb, weil es schmerzhaft war, sich an Erlebtes zu erinnern. Man wollte möglichst rasch Demütigungen und Erniedrigungen vergessen.
Zu berichten begann man erst später, als sich die Zeiten geändert hatten und die Kinder bereits erwachsen waren. Wobei sie nur von Episoden mit glücklichem Ende erzählten.

Die Flucht

Im Keller war es dunkel und feucht.
Anja ist gerade durch eine von irgendwem nicht verschlossene Eingangsluke gesprungen.
Zuvor rannte sie aus dem Haus, hinter der Mama her. Jedoch führten zwei deutsche Soldaten die Mama durch den Hof. Und deshalb schrie Anja nicht und rief nicht nach der Mama. Sie verstand, dass man sie ebenfalls in die Kolonne einreihen können, wo sich nicht nur Erwachsene, sondern auch ganz kleine Kinder, um sie ... wegzubringen. Das schreckliche Wort "Lager" war bereits dem Kind bekannt. Irgendwo schoss man. Und dies verstand sie ebenfalls: solche Einschläge bedeuten Schüsse. Angeschmiegt an einen Zaun wartete das Mädchen, bis man die Kolonne wegführt.
Die Soldaten stellten die Mama ins Glied und begannen zum Haus zurückzukehren. Unbemerkt geblieben, rannte Anja am Zaun entlang. Im Zaun befand sich ein Loch zum benachbarten Hof, und dort hinter einer Ecke, im schmalen Durchgang zwischen den Häusern - der Eingang zum Keller. Zum Glück für sie hatte jemand vergessen, hinter sich die Luke zu schließen, und in den Keller war es einfach zu gelangen.
Fast fiel sie die Stufen der Treppe hinunter, zwängte sich in die allerdunkelste Ecke und schwieg.
Im Keller waren Leute. Sie haben sie natürlich erblickt und begannen sich still zu beraten, ob es nicht besser sei, den Eingang zu verriegeln. Irgendein Fremder könnte gesehen haben, wohin das Kind gerannt ist, um ihm zu folgen. Das wäre für alle das Ende. Aber offensichtlich wartete jeder dass ein anderer den Eingang in den Keller verschließt, und hatte Angst sein Versteck zu verlassen.
Dann, keuchend, rannte erneut irgendjemand die Stufen nach unten, ohne diesmal zu vergessen, die Luke hinter sich fest abzuschließen.
-    Zhenja, bist du es? Was ist oben los?
-    Ruhe, Ruhe, später...
Ja, es war Zhenja - Anjas Mama. Sie sah, wohin ihre Tochter gerannt war, und erkannte, dass der Zugang zum Keller offen sein könnte.

Als die deutschen Soldaten zum Haus zurückkehrten, rannte Zhenja, ohne groß nachzudenken, aus der Kolonne. Ihr Entschluss, besser durch einen Schuss getötet zu werden, als in ein Lager zu kommen, stand bereits lange fest.
Die Kolonne wurde von weiteren Soldaten und von Polizei bewacht, doch sie entschloss sich - und floh.
"Mögen sie in den Rücken schießen, mögen sie. Dann ist alles mit einem Male vorbei", - dachte sie. Und so, in Erwartung eines Schusses in den Rücken, fast schon spürend, wie sich das vollzieht, rannte sie bis zur Öffnung im Zaun, machte sich klein ... und erkannte, dass niemand schoss! Das bedeutet, dass wenn die Luke nicht verriegelt ist, ist sie gerettet...

... Das Mädchen, nachdem es sich erholt hatte, fing an, in der Dunkelheit Gegenstände zu unterscheiden.
Sie sah in ihrer Nähe einen Pappkarton und begann darunter zu kriechen. Der Karton war alt, feucht und riss unter dem Druck der Anstrengung, sich darunter verstecken zu wollen.
"Warum bin ich so groß und passe nicht hinein?", - dachte das Mädchen, während sie sich so zwängte, dass ihre Knie das Kinn berührten, dabei versuchend den Karton über sich zu ziehen.
Das Kind lief erst fünf Jahre - so ein großes Kind war sie!

Die Kellerluke erhob sich. Es kam Arotschik - der Sohn einer der Beschützerrinnen dieser Fluchtstätte.
- Arlontschik, was ist oben los?
- Zhenja wurde mitgenommen, weiter niemanden. Es sind nur die Alten geblieben.
- Lauf und sage ihnen, dass Zhenja hier unter uns ist.
Arlontschik ging und nach einiger Zeit kam er zurück:
-    Sie glauben es nicht. Sie sahen, wie man sie in die Kolonne stellten.
Aber jetzt sah der Junge Zhenja selbst und verschwand beruhigt.
Diesmal ging alles gut...

 

                                                           (Übersetzung aus dem Russischen ins Deutsche von aes)

 

Schwesterchen

Man braucht die vierjährige Anja nicht zu wecken. Der Vater war nur zu ihrem Bettchen zugekommen, und sie hatte sofort die Augen geöffnet.
-    Was? Muss ich schon mich anziehen? 
-    Ja. Wir gehen zu den Nachbarn. Du bleibst bei ihnen einige Zeit.
-    Und ihr? Und Mama? 
-    Mama ist krank. Hast Du gehört, wie sie die ganze Nacht gestöhnt hat?
-    Ja… Und was ist jetzt, ist es schon Morgen?
-    Morgen. Bald kommt die Ärztin zur Mutti. Ich helfe Dir Dich anzuziehen, weil es sehr kalt ist. Januar, die bittersten Fröste.
-    Ich will nicht zu den Nachbarn. Lieber bleibe ich hier, bei Oma. In meinem Häuschen.

„Das Häuschen“ war unter dem Tisch in Omas Zimmer. Der Tisch war mit einem alten Samttischtuch bedeckt. Die Fransen hingen bis zum Boden. Unter diesem Tisch war es still und gemütlich. Die Erwachsenen haben sich schon daran gewohnt, dass Anja dort,  unter dem Tisch, ihr „Häuschen“ eingerichtet hat. Aus irgendwelchen Kästchen und Stoffresten hat sie ein Tischchen und ein  Paar Bettchen für ihre Puppen gemacht. 
Tuba, das Mädchen aus Bessarabien, das ihr unter Anderem  beibrachte,     Puppen aus Stoff zu nähen, ist im Sommer aus dem Ghetto weggegangen. Seit dem nähte Anja ihre Puppen und deren Kleider selbst. Und die Puppenhaare, schwarze, braune und goldgelbe, machte sie aus den Fransen, die sie mit der Schere von der Samtdecke abschnitt…bis Oma merkte, dass Anja ihr kostbares Tischtuch zerschnippelte…

Anja erinnert sich gut, wie Tuba  hat ihren Weggang aus dem Ghetto geplant. Fast niemand riet es ihr ab. Und wer, als nicht sie, - eine Siebzehnjährige, noch dazu blauäugig und blond, könnte versuchen heraus zu kommen aus dieser für Juden gemachten Falle?! Wem, wenn nicht ihr, sollte es gelingen?
Tuba hat sich mehrere Tage zu der Flucht vorbereitet. Sie hat ihre ärmliche Garderobe repariert. Sie hat ihrer Figur die Röcke und Kleider angepasst, um auf Einmal drei Röcke und noch dazu zwei Kleider aufzuziehen.
Von Tuba hat man sich verabschiedet, offensichtlich mit Neid. Und sie hat lachend gefragt:
-   Nu, wer sagt, dass ich Jüdin bin? Sehe ich tatsächlich wie eine Jüdin aus? 
Vielleicht, ist sie nachts weggegangen,  als das Mädchen schlief. Sie wollte nicht das Kind beim Abschied zum Weinen bringen. Und selbst hat sie Angst gehabt, ihre Tränen nicht halten zu können. – so hingen sie beide, die Grosse und die Kleine, an  einander. 

Es sind schon etliche Monate vergangen. Der Winter ist bereits gekommen. Und von Tuba und Ihrer Freundin, Cousine der Mutter, niemand hat etwas gehört. Aber, vielleicht, sind doch einige Nachrichten  angekommen. Nur dem Kind hat man es nicht erzählt.
So ist aus Anjas Leben das geliebte bessarabische Mädchen Tuba verschwunden. 
So sind aus dem Leben zwei jüdische Mädchen, Juden so wenig ähnlich, verschwunden.

-    Ich bleibe hier bei Babuschka, in meinem Häuschen. Ich werde ganz still sitzen…
-    Nein, es geht nicht. Jetzt kommt die Ärztin.
Sie haben sich noch nicht ganz angezogen, als es jemand an der Tür klopfte. Der Vater öffnet die Tür und ließ eine Frau, mit einem kleinen Koffer in der Hand, herein. Die Frau zog ihren Mantel aus und ging zur Mutter. Und das Mädchen folgte dem Vater zu den Nachbarn.

Nach einiger Zeit, bereits mittags, holte der Vater das Kind von den Nachbarn und brachte es zurück nach Hause. Er band das große Tuch am Rücken des Kindes los und half ihr sich heraus zu wickeln. Erst wenn sie ihre Hände gewaschen  hat, sagt er:
-    Jetzt hast Du ein Schwesterchen.
-    Ein Schwesterchen? Woher kommt sie?
-    Du hast doch diese Frau gesehen, mit einem kleinen Koffer? Sie hat sie gebracht.
-    In dem  Koffer? 
-    Ja. Genau in dem Koffer. Komm, ich zeige Dir Dein Schwesterchen.

Sie kommen rein ins Schlafzimmer der Mutter. Neben Mutters Bett auf zwei Hockern steht ein Waschtrog, ausgepolstert mit einer wattierten Decke. Darin eingewickelt, wie in einem Kokon, schläft ein Kind. 
-    So. Sieh, das ist Dein Schwesterchen, - sagt der Vater mit Stolz.
-    So Kleines?! Ich hab gemeint, sie ist groß und man kann mit ihr spielen!         
-    Nun, sie wird noch aufwachsen… 
Jäh verstummt er. 
Schaut zur Mutter.
In ihren Augen sieht  Anja Tränen und eine stumme Frage: „Wird sie wirklich groß?“
Über dem Kopf an der Decke heben sich schwarz Einschusslöcher ab: erst gestern hat man durch die Fenster geschossen. Das zerstörte Fensterglas nahm man sorgfältig heraus und verstopfte  die Fensteröffnung mit einem Kissen.

Das Schwesterchen ist gewachsen. Später konnte man mit ihr spielen. Erst recht nach der Befreiung, Jahre später, hat sie die Schule beendet, danach die Universität - mit einem Wort - aufgewachsen ist sie!   
Aber in diesem ersten Jahr ihres Lebens war das Schwesterchen oft und schwer krank.
Nur der liebe G-tt, die Eltern und die Oma können ermessen, wie das im Ghetto gelingen konnte, unter diesen Bedingungen, ohne Medikamente, (ohne Antibiotika!) - sie im Winter von der Lungenentzündung und im Sommer vom blutigem Durchfall - zu retten.
Anja erinnert sich daran, wie die Eltern nachts, über der Waschtrogwiege ihres
kleinen Töchterchens weinten:
- Lieber Gott, wenn Du sie uns schon gegeben hast, nimm sie nicht weg!

 

  


 

 

DER KOMPONIST SERGEJ KOLMANOVSKIJ

    STELLT SEIN DEM GEDENKEN AN REICHSKRISTALLNACHT GEWIDMETES ORATORIUM „TRAUERGESÄNGE“ VOR. DIE TEXTE SIND VOM ÖSTERREICHISCHEN DICHTER PETER PAUL WIPLINGER.

    www.besucherzaehler-homepage.de