Svetlana Zhukova
Svetlana Zhukova wurde in Kharkov geboren. Doktortitel der Biologie, Professorin, 1974 – 1994 – Leiterin des Lehrstuhls für Biologie im Kharkover Medizinischen Institut, Autorin von 180 wissenschaftlichen Arbeiten und von einem Lehrbuch für Biologie und Genetik. Schreibt Gedichte und Erzählungen, einige davon wurden ins Deutsche übersetzt, füht große Kultur- und Bildungsarbeit, beschäftigt sich mit der Förderung der jüdischen Kultur. Veröffentlichungen in der Zeitung „Alef“, in den zweisprachigen Anthologien „Parallelen“, „Lichtschatten“ und im „Potsdamer literarischen Blatt“.Autorin der Bücher „Spaziergang durch Potsdam. Vergangenheit und Gegenwart“ und "Die letzten Zeugen berichten".
Aus dem Buch "Die letzten Zeugen berichten"
SO BEGANN DER KRIEG
Der 22. Juni 1941 war ein sonniger Sonntag. Die ganze Familie wollte in den Zoologischen Garten gehen. Jeder freie Tag (wenn Papa nicht arbeitete) war ein Fest, und wir gingen irgendwohin "hinaus": In den Wald, ins Museum, ins Theater. Und ich habe als Kind verstanden, dass sich der Begriff "Sonntag" von "irgendwohin hinausgehen" ableitet*. Später ... wurde diese Tradition oft nicht eingehalten: auf den freien Tag wurden verschiedene Haushaltsdinge gelegt.
Ich ging zwischen Mama und Papa über der Sumsker Straße - der zentralen Straße von Charkow und betrachtete alles ringsum. Einem Kind ist selten langweilig: soviel Neues ringsum, Interessantes. Ampeln gab es an den meisten Kreuzungen nicht, dafür standen aber jugendliche Onkel Milizionäre in weißen Gürtelhemden und Schiebermützen mit weißen Oberteil und sogar mit weißen Handschuhen zeigten, sich wie an Scharnieren drehend, wer wohin zu fahren habe. In Charkow war noch alter Hauptstadt-Chic zu spüren, denn die Hauptstadt wurde erst vor nicht allzu langer Zeit nach Kiew verlegt. Und in derer Folge blieb im Zentrum der Stadt ein riesiger Platz, der tatsächlich größte Platz Europas. Derzeit ist er bepflanzt mit Linden und hat ein weniger pompöses Aussehen, wenngleich auch alle Meetings und Demonstrationen eben dort durchgeführt werden, denn der Platz kann etwa 100.000 Menschen fassen.
Aus einem großen schwarzen Teller, hoch oben an einem Pfahl befestigt, hörte man eine laute Stimme, und die Worte fielen nach unten, wie gusseiserne Platten. Meine Eltern hielten an und begannen zuzuhören. Mir wurde es bald langweilig, ich zog sie an den Händen: "Nun, kommt wir gehen in den Zoo! Was ist hier schon interessant?" Niemand antwortete mir ... die Menge vergrößerte sich. Alles wurde angezogen, wie von einem Magneten zum schwarzen Teller. Ringsum - pfeifende Stille, und über allem - blinzelnder, wolkenloser Junihimmel, der Duft von Jasmin und Lindenblüten vom nachbarlichen Hof.
Ich fühlte etwas ungewöhnliches, viele Leute stehen und alle schweigen. Aber was eigentlich dieser Onkel im Radio sagte, habe ich nicht raus gehört. Endlich war die Rede zu Ende. Die Menge geriet in Bewegung, einen seltsamen Ton anschlagend, der zwischen Ausatmen und Stöhnen lag. Und ich hörte das Wort "Krieg".
Dies gehört habend, wunderte ich mich. Warum schreien diese Onkel und Tanten nicht "Hurra!"? Warum freuen sie sich nicht? Wir Kinder lernten bereits im Kindergarten Lieder und wir sangen innbrünstig: "Von der Taiga bis zu den Britischen Meeren ist die Rote Armee die stärkste von allen!" Und: "Die geliebte Stadt kann ruhig schlafen".
Mir war alles klar, so wird es sein: Unsere ruhmreichen Flieger und Panzerfahrer werden den Feind schnell zerschlagen. Nur seltsam, dass die Erwachsenen warum auch immer schweigen und tief durchatmen. In den Tierpark führten sie mich selbstverständlich nicht.
Bereits im Juli 1941 wurde Charkow jede Nacht bombardiert. Spät abends oder nachts ertönten die lauten Sirene - "Luftalarm". Alle Bewohner unseres Hauses, meine Mutter und ich, waren stets rechtzeitig darauf vorbereitet. Neben dem Bett stand eine Tasche, in welche eine Flasche Trinkwasser enthielt, ein Beutelchen mit Backwaren, falls auf das Haus eine Bombe fallen sollte und wir im Keller verschüttet bleiben, zwischen Steinen und Zement. Jeder hatte eine Gasmaske. Die Mama nahm mich mit der Decke, sowie die Tasche, und rannte gemeinsam mit den anderen Bewohnern in den Luftschutz-Keller. Wir saßen dicht aneinander gedrängt, hörten Explosionen und das Pfeifen der Geschosse. Wir Kinder hatten keine Angst. Die Jungen warteten auf das Ende der Bombardierung und rannten als erste auf den Hof und sammelten Scherben, diese waren noch heiß mit eingerissenen Rändern.
Sehr schnell verwehte die heroische Betrachtung vom siegreichen Marsch unserer Armee.
Aus Kislowodsk rief Mamas Schwester an und derer Mann, Naum Kratschuk. "Warum sitzt ihr dort unter Bomben?", fragten sie, "kommt zu uns, bei uns ist es ruhig". Aber Mama, Gott sei Dank, entschied sich anders. "Man muss weiter weg fahren, in den Ural, nach Sibirien. Die Front nähert sich schnell." und riet Sonja ebenfalls nicht in Kislowodsk zu bleiben. Naum ging an die Front, ihr 18jähriger Sohn Josif ebenfalls. Von der Front kehrte Naum als Invalide zurück, aber Jontschik, wie man ihn zu Hause nannte, starb im Kampf auf Kuban. Doch das alles lag noch vor uns, vorerst war der Herbst 1941, wir fuhren am 16. Oktober, eine Woche bevor die deutschen Truppen in Charkow einmarschierten.
Ich erinnere mich, wie Mama und ich über das Gleis des Charkower Bahnhofes rannten. Das Zug setzte sich langsam in Bewegung, die Türen zu den Waggons waren noch offen, die Mama rennt mit mir im Arm und übergibt mich irgendeinem Mann. Er nimmt mich, gibt der Mama die Hand, und schon ist sie neben mir.
Der Weg nach Orenburg dauerte länger als ein Monat. Der Zug hielt oft an, die Truppentransporte vorbei lassend, welche Soldaten an die Front brachten, und in die Gegenrichtung, in Richtung Ural, gingen Züge, gefüllt mit Verwundeten. Einige Male wurden wir bombardiert, doch je weiter wir uns Richtung Osten bewegten, umso ungefährlicher wurde es. Ich erinnere mich wir wir über eine Brücke die Wolga überquerten. Mich beeindruckte die Breite dieses Flusses. Zu jener Zeit wussten wir noch nicht, welche große Schlacht hier in anderthalb Jahren stattfinden wird, welche zum Vorboten des kommenden Sieges werden wird.
Ich erinnere mich, wie wir alle heraus mussten, an einer großen Station, zur Desinfektion. Jeder musste sich duschen, die komplette Kleidung abgeben, welche in speziellen Metallbehältern einer Bearbeitung unter hoher Temperatur zugeführt wurde. Als wir die Kleidung zurück erhielten, war diese heiß, die Wäsche geriet kaffeebraun und roch verbrannt. So wurde die Gefahr einer Epidemie verhindert, insbesondere Typhus. Später erfuhr ich, dass dies der erste in der Geschichte unseres Landes Krieg war, bei dem es gelang, Massensterben von Infektionskrankheiten zu verhindern, wenngleich es vereinzelt Fälle von Erkrankungen gab.
Wir kamen in Orenburg (Tschkalow) an, als dort bereits tiefer Schnee lag. Und es begann unser Leben in dieser Ural-Stadt bis Juni 1945. Derweil dort, in Charkow, meine sorglose und glückliche Vorkriegskindheit zurück blieb.
Das Wichtigste - Mama war bei mir, und unsere gesamte Familie war zusammen. Papa als Militär-Ingenieur, trat der Verwaltung der Ural-Militär-Bau-Verwaltung.
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* Russisch: Freier Tag - "Wychodnoy Den" - Ausgangstag
KISLOWODSK 1942
Die deutschen Truppen drangen unerwartet nach Kislowodsk und errichteten in der Stadt eine neue Ordnung.
Am 16. August 1942 hing ein Befehl im Aushang: "Alle Juden haben auf der Kleidung ein Erkennungszeichen zu tragen: Den sechseckigen Stern. Und sie haben alle Wertsachen abzugeben: Gold, Silber, Juwelierarbeiten".
Die Menschen brachten alles, was sie hatten: Bargeld, Tafelsilber, Ringe, Uhren, Bilder, Teppiche. Sie hofften, dass sie dergestalt ihr Leben retten konnten, wie das Leben ihrer Nächsten.
Anfang September wurde allen befohlen, sich an der Kislowodsker Warenstation einzufinden, mit Gepäck nicht schwerer als 20 Kilogramm, einem Vorrat an Lebensmittel für 2 Tage und die ihnen noch verbliebenen Wertsachen. Die Wohnungsschlüssel, wurde befohlen, waren abzugeben in der Kommandantur. Auf der Liste der Juden waren 2.000 Menschen, denen mitgeteilt wurde, dass sie in andere Gebiete umgesiedelt werden. Auf der Liste standen auch Menschen mit nur einem jüdischen Elternteil und im Pass ausgewiesene Russen. Der Glaube wurde nicht berücksichtigt, unter denen waren Christen und Atheisten. Auf die Liste kamen nicht nur Einheimische, sondern auch Flüchtlinge, die zu jener Zeit sehr viele waren, in Kislowodsk.
Was im Weiteren geschah berichten Augenzeugen. Zeugin A. N. Rosanowa: "Ich arbeitete als Wächterin im Getreidelager, in der Nähe von der Eisenbahnstation "Mineralnye Vody" der Kaukasus-Linie. Am 9. September um 11:00 Uhr traf ein Verbund von 18 Viehwaggons und 2 Reisewaggons ein. Hieraus wurden Leute verschiedensten Alters getrieben: Greise, Mütter mit Kindern, schwangere Frauen. Sie wurden aufgestellt, ich sah dass sie sich auszogen und dass sie zum Panzerspergraben geführt wurden. An der Grube erschoss man sie mit Maschinengewehren. Einige versuchten zu fliehen, sie wurden mit Autos verfolgt und ebenfalls erschossen. Die Kleidung der Erschossenen wurde anschließend aufgeladen und weggebracht." Allein an der Station "Mineralnye Vody" wurden 20.000 Menschen aus dem Nordkaukasus erschossen. Dieses Zeugnis befindet sich im Sammelband der Dokumente und Materialien "Die Vernichtung der Juden der UdSSR zu Zeiten der deutschen Okkupation. Dokumente klagen an. 2ter Band." (Jerusalem, Yad Vashem, 1991)
Als ich im Jahre 2006 in Jerusalem meine Freundin Ella Turkowskaja besuchte, besuchte auch ich Yad Vashem und füllte die Formulare mit Angaben zu Mamas Schwestern. Diese wurden erschossen weil sie Jüdinnen waren. Ebenfalls füllte ich ein Formular aus, für den Sohn von Sonja, für Mamas Verwandten Josif Kratschka, geboren 1922, der im Kampf um Kuban fiel. Jonitschka - so nannten wir ihn - war Student des 2. Kurses an einem medizinischen Institut und er lebte bei uns. Er war stark kurzsichtig, und wurde dennoch in die Armee einberufen. Er war Polit-Verantwortlicher. Die Mutter wusste von dessen Tod nichts.
Ich erinnere mich, dass die Mama sagte: "Diese Kenntnis wäre für Sonja schlimmer als der Tod. Als sie zur Erschießung ging, glaubte sie, ihr Sohn sei noch am Leben".
Was wenn es nicht den klugen Entschluss der Mama gegeben hätte? Wenn wir nicht nachOrenburg, sondern nach Kislowodsk gefahren wären? Es hätte mich nicht gerettet, dass ich Papas russischen Familiennamen trug.
Wieviel Zeit bereits vergangen ist. Und doch schreibe ich diese Zeilen mit Tränen in den Augen. Es gibt Wunden, die schmerzen das ganze Leben. ...
Ich schrieb von meinen Nächsten. Aber es gibt in jeder Familie bittere Erinnerungen, die Verletzungen der Seele und der Verlust von Angehörigen in diesen schrecklichen Jahren. Gebe Gott, dass kein Volk, dass vor allem mein vielgelittenes jüdisches Volk niemals so etwas in Zukunft erlebt. Und Vergangenes darf man nicht vergessen...
(Übersetzung aus dem Russischen ins Deutsche AES)
Fortsetzung folgt in den weiteren Ausgaben des Journals…