Peter Paul Wiplinger Archiv
PETER PAUL WIPLINGER
Schriftsteller und künstlerischer Fotograf. Geboren 1939 in Haslach, Oberösterreich.
Lebt seit 1960 in Wien. Studium der Theaterwissenschaft, Germanistik und Philosophie. Vorwiegend Lyriker, aber auch Kulturpublizist. Seit zwei Jahrzehnten im Vorstand der IG Autorinnen Autoren. Von 1980 bis 2010 engagiertes Mitglied des Österreichischen P.E.N.-Clubs. Bisher 44 Buchpublikationen. Seine Gedichte wurden in viele Sprachen übersetzt und publiziert. Zuletzt erschienene Bücher: „Lebensbilder - Geschichten aus der Erinnerung“ (2003), Podium-Porträt „P.P.Wiplinger - Aussagen und Gedichte“ (2004), der Prosaband „ausgestoßen“ (2006), „Steine im Licht“, Gedichte und Prosa aus Rom (2007), „Schriftstellerbegegnungen 1960-2010“ (2010),
„Lebenswege - Geschichten aus der Erinnerung“ (2011), „Sprachzeichen“, Essays und Prosa (2011), „Schattenzeit“, Gedichte 2000-2010 (2013) sowie „Positionen 1960-2012“ (2014).
ABGEHOLT
„Sie sind am Fenster gestanden und haben geschrien, als sie abgeholt wurden“, sagte Jahrzehnte später die Tochter des damaligen Gemeindearztes zu mir. „Mein Vater konnte es nicht verhindern. Sie haben sich an die Fenstergitter geklammert, weil sie vielleicht instinktiv gespürt haben, was ihnen bevorsteht. Dann hat man sie hinausgeführt zu den Autos, die mit ihnen wegfuhren. Niemand hat danach darüber geredet, weder damals noch später; alles wurde verschwiegen, bis heute.“ Wieviele es gewesen seien, fragte ich die Frau, die ich zufällig in Salzburg getroffen hatte. Das könne sie nicht genau sagen, einige seien es gewesen, sechs oder sieben. Kurze Zeit später wurde das Krankenhaus dann überhaupt geschlossen, die Ordensschwestern mußten es verlassen, kamen in das Zollhaus an der Grenze oben, weit vom Ort entfernt.
Depperln“ seien sie alle gewesen, gutmütige, Narren halt; „geistig behindert“, würde man das heute nennen; „Lebensunwertes Leben“ hatte es damals geheißen. In Propagandafilmen hatte man solche bedauernswerte Menschen gezeigt, aber das so, daß sie Abscheu erregt, daß sich die Leute angeekelt abgewandt hätten. Und dann hatte man vorgerechnet, was so ein einziges „Lebensunwertes Leben“ pro Tag die Volksgemeinschaft kostet; von 3,50 bis 4,50 Deutsche Reichsmark. Dieser Betrag multipliziert mit der Anzahl der auf Deutschem Reichsgebiet lebenden Personen dieser Art ergab dann eine sehr hohe Summe, die jährlich aufzubringen war und sonst auch in Zukunft noch aufgebracht werden müsse. Man könne diese Summe dann noch mit einer Anzahl von Jahren - je nach Lebenserwartung und probeweise einmal nach dem Durchschnitt berechnet - multiplizieren, dann habe man einen unvorstellbar, ja auch einen unverantwortbar hohen Betrag, den die Erhaltung dieses „Lebensunwerten Lebens“ den Staat, die Volksgemeinschaft kosten würde. Und wozu, bitte sehr, solle das gut sein, sei doch zu fragen. Jeder könne sich darauf selbst die Antwort geben. Hier sei doch die Frage nach dem Kosten-Nutzen-Verhältnis zu stellen; und diese Frage müsse auch beantwortet werden. Die Antwort sei ganz einfach. Und für diese - Menschen könne man sie im eigentlichen Sinne gar nicht nennen - eben für diese sei es auch besser; geradezu eine Erlösung.
Mit den grauen Bussen, die keine Fenster hatten, durch die man ins Wageninnere hätte sehen können, weil die Fensterscheiben mit dunkelgrauer Farbe zugemalt worden waren, seien dann diese Personen aus dem Krankenhaus weggeführt worden; „in ein anderes“, wie der Ortsgruppenleiter zu seinen engsten Parteigenossen sagte. In der Nervenheilanstalt der Landeshauptstadt sei eine Sammelstelle eingerichtet worden. Alle diese Patienten würden dann eine intensive, eine besondere Behandlung erfahren; eine „Sonderbehandlung“ eben, sagte er und schaute dabei über die Köpfe der Parteigenossen hinweg. Und diese nickten. Das Wort „Sonderbehandlung“ hatten sie schon gehört; das konnte man jetzt öfter hören. Das war ganz normal. Die „Sonderbehandlung“ sei also etwas ganz Normales, dachten sie; da brauche man sich weiter nichts dabei zu denken. Und überhaupt ging ja alles ganz präzise organisiert vor sich. Für alles gab es immer Papiere, Meldungen, Gutachten, Beschlüsse, Bescheide, Benachrichtigungen. In der Kreisstadt gab es einen eigenen Arzt für diese Fragen, der sich damit befaßte, im Bezirk solche Personen aufzuspüren; diese dann untersuchte, die Ergebnisse nach Berlin meldete. Von dort kamen dann die Bescheide, nach denen zu handeln war. Viel geredet wurde da nicht, es war zu handeln. Und alles hatte seine Ordnung.
Am Fenster seien sie gestanden, mit ihren Fingern an die Fenstergitter gekrallt, die Gesichter dabei an die Fensterscheiben gedrückt. Man habe die im Schreien geöffneten Münder sehen und ihre Verzweiflung direkt spüren können, sagte die Tochter des Gemeindearztes. So habe es ihr der Vater später erzählt. Und dabei immer wieder traurig den Kopf geschüttelt und hinzugefügt: „Daß Menschen so etwas tun können; daß Menschen so etwas tun können!“
Copyright © by Peter Paul Wiplinger
DER ALTE HERR
Ich erinnere mich: Die großen, dunklen Augen mit dem manchmal wie verloren wirkenden Blick in eine weite Ferne; das schneeweiße, stets korrekt fassonierte und frisierte Haar, füllig, in langen, leichten Wellen zurückgekämmt. Immer in Anzug und Krawatte und frischem Hemd; blank geputzte Schuhe, sorgfältig gepflegt; leicht vorgebeugte Haltung; fast immer eine Zigarette in der Hand.
So saß der alte Herr meist am Nachmittag oder dann wieder spät am Abend oder in der Nacht im Café Hawelka, in der Dorotheergasse in Wien. Immer oder fast immer saß er an seinem Lieblingsplatz; in Wien sagt man „Stammplatz“ dazu. Das war der Platz am runden Tisch vor dem Pfeiler, gleich beim Eingang, neben dem Zeitungstisch. Er saß immer mit dem Rücken zur Wand, so als suchte er diesen Schutz, als benötigte er ihn.
Wenn ich ins Café ging, und der alte Herr da war, trafen sich meist sogleich unsere Blicke. Wir kannten einander schon, auch wenn wir noch nie ein Wort miteinander gesprochen hatten. Wir kannten uns „vom Sehen her“, als Gäste, als Stammgäste des gleichen altehrwürdigen, schon zur damaligen Zeit sehr bekannten und später berühmten „Künstlercafés“, in dem wirkliche und selbsternannte Künstler aus- und eingingen, stundenlang vor einem „Kleinen Braunen“ saßen, sich in hitzige Debatten einließen oder sich einfach hinter einer der vielen Zeitungen, die es gab, verschanzten.
Ich war ein Einzelgänger, genauso wie der alte Herr, wie mir schien; denn nie sah ich ihn in Begleitung. Der alte Herr war immer allein, genauso wie ich. Nur ich war jung, und er war alt. Ich war nach Wien zugezogen, zum Studium; vielleicht war er dies auch einmal, in jungen Jahren, dachte ich damals. Er erregte meine Aufmerksamkeit, ich vielleicht auch seine. Einzelgänger beobachten gerne, intensiv und gekonnt; und am meisten beobachten sie einander. Sie sind ja einander ähnlich, fühlen sich irgendwie verwandt; denn sie haben etwas gemeinsam: ihr Alleinsein; das es entweder gezwungenermaßen für sie gibt oder aufgrund eigener, freier Entscheidung.
Und so beobachtete auch ich den alten Herrn, möglichst unauffällig, wenn er seine Zeitung las oder in die Ferne blickte. Der alte Herr wußte, daß ich ihn von Zeit zu Zeit beobachtete; er wußte, daß ich mich für ihn interessierte. Er mußte es bemerken, denn ich lege mir bei meinen Beobachtungen keine allzugroße Zurückhaltung auf. Beobachten ist meine Passion. Manchmal schaute auch der alte Herr zu mir herüber, wenn ich an einem der anderen Tische in seiner Blickrichtung saß. Trafen sich unsere Blicke, so nickten wir einander - fast möchte ich sagen: mit den Augen - kurz zu, wobei die Miene des alten Herrn sich etwas aufhellte, ja dann meist sogar einen Anflug von Freundlichkeit, später sogar von einem gewissen Wohlwollen zeigte, wie mir schien. Es war, als ob wir durch ein geheimes gemeinsames Einverständnis verbunden wären, von Treffen zu Treffen immer mehr.
Wenn der alte Herr nicht im Café war, vermißte ich ihn. Er fehlte mir. Etwas fehlte mir dann an meinem Kaffeehausbesuch, war nicht vollständig an ihm. Manchmal dachte ich dann auch: der alte Herr wird doch nicht krank sein; nein, sagte ich mir, letztens sah er doch ganz gesund und frisch, wenn auch etwas ermüdet aus. Nein, krank ist er nicht. Vielleicht ist er nur verreist; oder er geht im Stadtpark spazieren; oder er ist in einem Museum, bei irgend einer Ausstellung. Ich ordnete nämlich den alten Herrn dem Künstlerischen zu, jedenfalls was sein Interesse, nicht unbedingt seinen tatsächlichen Beruf betraf. Wissenschaftler, Journalist, Sachbuchautor oder Antiquitätenhändler hätte er sein können. Was er wirklich war, wußte ich ja zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Und da ich von dem alten Herrn nichts Konkretes wußte, erfand ich ein Gedankenspiel: Ich machte mir Vorstellungen vom Leben, vom bisherigen Lebensverlauf, ja auch von einem möglichen Lebensschicksal dieses Menschen.
Ich fragte mich, welches Leben der alte Herr gehabt haben mochte. Ob er verheiratet war und Kinder hatte. Ob er in fremden Städten gelebt hatte; und wenn ja, in welchen. Ob er jemals in Amerika oder in Rußland gewesen war. Ob er in jungen Jahren Sport betrieben hatte, und wenn ja, welchen. Eislaufen, dachte ich, würde gut zu ihm passen. Eislaufen mit einer Dame in einem langen schwarzen Mantel. Ich überlegte, welche Städte, welche Autos, welche Möbel, welche Spaziergänge und welche Menschen oder welch ein Hund zu „meinem“ alten Herrn passen mochten; ich sagte „ja, dies vielleicht“ oder „nein, das sicher nicht“. Immer mehr und eingehender ordnete ich dem alten Herrn, wenn er nicht im Café war, einen imaginären Lebensraum zu. Dabei wußte ich überhaupt nichts von diesem Menschen; jedenfalls nicht mehr, als meine Augen sahen, wenn wir uns im Café trafen. Eine dunkle Stimme hatte er, ja, das wußte ich; denn er hatte schon einmal, da ich im Gang direkt an ihm vorbeigegangen war, meinen Gruß erwidert und mit einer vom jahrzehntelangen Zigarettenrauchen verdunkelten und vom Alter schon etwas brüchig gewordenen Stimme „Guten Tag“ zu mir gesagt.
Einmal, als ich das Café betrat, es war schon spät am Abend, waren alle Plätze im Café besetzt; auch am Tisch des alten Herrn saßen zwei oder drei mir unbekannte Personen, doch ein Stuhl war noch frei. Als hätte der alte Herr meine Gedanken erraten, als er meinen suchenden Blick wahrnahm, zeigte er mit einer freundlichen, einladenden Geste auf den noch freien Stuhl ihm gegenüber. Ich nahm das Angebot dankbar an, wenngleich irgendwie verlegen, so als hätte ich ohne es zu wollen, eine zwischen uns zwar nicht vereinbarte, aber doch bestehende Distanz überschritten und als sei ich mit diesem Überschreiten einer unsichtbaren Grenze in seinen privaten Bereich eingetreten. Jedenfalls waren wir einander um einen Schritt nähergekommen. Mit einer gewissen Scheu, aber auch mit Erwartung registrierte ich dies in dem Augenblick, als ich mich niedersetzte.
„Wir kennen uns schon lange“, sagte der alte Herr und fügte hinzu: „vom Sehen aus“. „Ja“, sagte ich, „wir haben uns schon einige Male gesehen und mit unseren Blicken Kontakt zueinander aufgenommen.“ „Ich weiß“, sagte der alte Herr, „Sie haben mich beobachtet; und ich wiederum habe Ihnen mit meinen Blicken gezeigt, daß ich das registriert habe. Und jetzt, da wir gemeinsam an diesem Tisch sitzen, können wir uns auch miteinander bekannt machen, wie sich das geziemt. Adolf Frankl heiße ich“, sagte der alte Herr; „meine Freunde nennen mich Dolfi. Adolf wäre nicht passend für mich, wenn Sie verstehen, was ich meine.“ Während er dies sagte, nickte er mir freundlich zu, doch seine rechte Hand blieb weiterhin auf dem roten Polsterbezug der Sitzbank liegen. Und der silberne Siegelring an seiner Hand glänzte hell im Lampenlicht. Ich nannte meinen Namen und fügte erklärend hinzu: „Ich bin Student, hier an der Universität. Ich arbeite auf einer Tankstelle, um mir mein Studium zu verdienen; und komme gerade von der Arbeit.“ Der alte Herr nickte. Meine Aussage schien seine Billigung zu erfahren. „Ja, es ist gut“, sagte er, „wenn man in jungen Jahren strebsam ist.“ Mehr sagte er nicht, sondern er schaute an mir vorbei, in die Ferne, so als schien er irgend etwas zu erwarten, seit langem, das aber nicht kam. Da war wieder dieser Blick, den ich schon kannte, den ich aber nicht einordnen konnte in eine mir vertraute Verhaltensweise. „Sie entschuldigen“, sagte ich und griff nach einer Zeitung am Nebentisch. „Selbstverständlich!“, antwortete der alte Herr und machte dabei eine höfliche Geste. Ich blätterte in der Zeitung herum ohne wirklich zu lesen. Der alte Herr hatte ein Notizbuch aus seiner Rocktasche genommen und zeichnete etwas darin und schien wiederum weit von der Welt entfernt zu sein, die ihn umgab.
Seit diesem persönlichen Kennenlernen, das eigentlich nur ein gegenseitiges Einandervorstellen ohne einen intensiveren Gesprächskontakt gewesen war, hatten wir doch etwas gemeinsam, nämlich daß wir einmal zusammen an einem Tisch gesessen waren und einander unsere Namen mit einer kleinen Beifügung genannt hatten. Das schien uns um einen Grad mehr als vorher zu verbinden. Wenn wir uns in der Folge trafen, so grüßte jeder von uns beiden den anderen bei seinem Namen. Ich sagte also: „Guten Tag, Herr Frankl!“ Und Herr Frankl erwiderte mit einer leichten Verbeugung oder einem Zunicken des Kopfes: „Guten Tag!“ - und nannte dabei seinerseits meinen Namen. Das gab bei Gott nicht das Gefühl gemeinsamer Vertrautheit, aber es entstand auf diese Weise eine Art Ritual, das zu einem Bestandteil unserer Begegnungen wurde. Etwas war hinzugekommen zu unserem Leben, was es vordem nicht gegeben hatte, jedenfalls nicht zwischen uns beiden. Eine Art von Verbindung war jedenfalls da, war geschaffen worden oder entstanden; das war nicht zu leugnen.
Eines Tages bemerkte ich bei meinem Spaziergang, den ich immer nachmittags um die gleiche Zeit in der Innenstadt, immer in denselben Straßen und Gassen und auf denselben Plätzen, zu absolvieren pflegte, in der Nähe des Stephansdomes eine größere Menschenansammlung, die sich eben erst gruppiert zu haben schien. Auch zwei Autos standen auf dem Platz neben der Menschenmenge. Die Tür eines der beiden Autos, eines weißen VW-Kabrioletts, stand weit offen. Ungewöhnlich erschien das, da der Platz außer in der Ladezeit am frühen Vormittag für jeden Verkehr gesperrt war. Neugierig geworden darauf, was denn hier los sei, trat ich näher und versuchte, über die Köpfe und zwischen den Köpfen der vor mir Stehenden auf das Innere des von den Umstehenden gebildeten Menschenkreises zu blicken und etwas von dem Geschehen, das die Menschenmenge angezogen und bewogen hatte stehenzubleiben, zu erspähen.
Nach einigen vergeblichen Versuchen, etwas trotz der vor mir befindlichen Menschenmauer wahrzunehmen und erst nachdem ich mich zwischen einigen Personen etwas ungehörig durchgezwängt hatte, konnte ich in das Innere des Kreises blicken. Da standen drei oder vier großgewachsene Burschen, noch keine fünfundzwanzig Jahre alt, fuchtelten mit ihren Armen herum und redeten aufgeregt und laut auf die Menge ein. Eine Art Uniform hatten sie an; eine, die ich von Abbildungen her kannte und aus meiner frühen Kindheit noch dunkel in Erinnerung hatte: braune Hemden, schwarze Hosen, schwarze Stiefel, schwarze Ledertasche mit Riemen von der Schulter herab quer über die Brust, schwarzer Gürtel mit einer Koppelschnalle und eine rote Armbinde mit irgendwelchen schwarzen Zeichen darauf. Einer hatte sogar an seinem Gürtel einen Dolch umgeschnallt. Die Haare der Burschen waren gescheitelt, von rechts nach links, weit über den Kopf hinauf kurzgeschoren, mit Wasser oder Brillantine-Haaröl geglättet. Sie standen aufrecht, breitbeinig. Einer hatte eine kurze, fein geflochtene, lederne Gerte in der Hand, mit der er immer wieder auf seine schwarz behandschuhte linke Handfläche schlug. Das machte ein unangenehmes, pfeifendes Geräusch, ein peitschendes Klatschen, das mich sogleich an meine Kindheit, an Züchtigung erinnerte.
Die Männer markierten ein forsches, ja einschüchterndes Auftreten, schlugen immer wieder ihre Stiefelabsätze mit einem lauten Knall zusammen und reckten sich dabei mit vorgestreckter Brust und erhobenen Armen in die Höhe. Sie schrien Worte wie Volksbefreiung, Verräter,Auschwitzlüge, Nationalstolz, Juden. Man konnte nur einzelne Wörter verstehen, denn ihre fanatische Proklamation ging im eigenen Geschrei unter. Unbegreiflicherweise unterbrach niemand diese Kundgebung. Die Menschen standen wie gebannt und doch neugierig vor den Akteuren. Da sah ich ein mir bekanntes Gesicht: es war das des Herrn Frankl. Er schien etwas zu sagen, aber ich konnte wegen des Geschreis nichts verstehen. Und dann sah ich, wie einer dieser Burschen mit seiner Faust in Richtung von Frankls Kopf schlug, ihn aber nicht traf.
Da drückte ich auf den Auslöser meines Fotoapparates, den ich bei meinen Spaziergängen stets bei mir trug und den ich kurz zuvor schon aus der Fototasche herausgenommen hatte. Es machte klick und nochmals klick, dann hatte ich die Aufnahmen. Und schon rannte ich in Richtung einer Telefonzelle vor der auf dem Platz befindlichen Konditorei. Ich wählte den Polizeinotruf. Nach kurzem Läuten meldete sich eine Stimme, und ich hörte mich sagen: „Kommen Sie, kommen Sie schnell, hier ist etwas Unbegreifliches im Gange: eine, wie ich glaube, illegale Kundgebung von Neonazis mitten auf dem Stephansplatz; ich erstatte hiermit Anzeige.“ Ich nannte noch meinen Namen und meine Wohnadresse.
Nach meinem Anruf kehrte ich gleich wieder zur Menschenmenge, die sich schon etwas gelichtet hatte, zurück. Ich erinnere mich, daß ich zu den Neonazis dann noch hingerufen habe, daß ich die Polizei verständigt hätte, worauf sie nur lachten und mir den sogenannten Stinkefinger zeigten und mich „Linkes Arschloch!“ nannten. Es dauerte, wie mir schien, sehr lange, bis die Polizei, eine Funkstreife, am Tatort eintraf. Und auch dann schritt sie eher gemächlich als zügig zur Amtshandlung, die nur darin bestand, daß zwei Polizisten in lässiger Haltung mit den nun ebenfalls nicht mehr so stramm dastehenden Neonazi-Provokateuren redeten. Was dabei herausgekommen ist, weiß ich nicht. Ich suchte Herrn Frankl und fand ihn gleich in der daneben liegenden Passage zwischen einer Buchhandlung und dem Café Europa. Er lehnte an der Mauer und rauchte eine Zigarette, wobei er den Rauch hastig einsog. Seine ganze Haltung war niedergedrückt, sein Gesicht grau, er zitterte. Ob ihm nicht gut sei, fragte ich ihn. „Nicht so sehr“, antwortete er, aber das gehe schon vorüber. Ich kam sofort auf den soeben miterlebten Vorfall zu sprechen und gab meiner Empörung lautstark Ausdruck. „So etwas mitten in Wien“, sagte ich, „mitten hier in Wien. Und alle diese Leute schauen nur blöd dabei zu, hören sich das alles an und schweigen. Niemand hat protestiert, außer Ihnen, Herr Frankl“, sagte ich; „und ein paar Touristen, Engländer, Amerikaner oder Franzosen, wie ich glaube.“ Herr Frankl schwieg. „Ja“, sagte er dann mit brüchiger Stimme, „so ist das.“
„Begleiten Sie mich vielleicht nach Hause“, fragte er mich und sah mich dabei fast bittend an. „Ich wohne ganz in der Nähe“, fügte er hinzu; „in der Straße, die den gleichen Namen trägt wie Sie.“ Dabei sah er mich fast vertrauensvoll an. „Ich habe die Polizei verständigt“, sagte ich. „Ja“, meinte er, „das war gut.“ Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Aber das wird nichts nützen.“ Dabei schüttelte er den Kopf und sagte: „Das alles hört anscheinend nie auf, das lebt immer noch weiter, das lebt immer wieder auf.“ Dann schwieg er. Wir gingen ohne ein Wort die kurze Strecke bis zum Haus, in dem er wohnte. Auf dieser kurzen Wegstrecke und in dieser knappen Zeit schien er sich immer mehr in sich selber zurückzuziehen. Es war spürbar, wie er sich wie mit einer Mauer umgab und plötzlich wie ein Fremder, dem ich den Weg zeigte, neben mir herging. Beim Haustor angekommen, suchte er in seinen Taschen umständlich nach dem Schlüssel, den er erst nach einer geraumen Weile fand. Als er das Haustor aufsperrte, zitterten seine Hände. Beim Hineingehen drehte er sich zu mir um und sagte mit fast tonloser Stimme: „Sie müssen nämlich wissen, ich bin Jude, ich war in Auschwitz, in dieser Hölle; und ich habe sie überlebt.“ Dann fiel die Tür mit einem scharfen Geräusch ins Schloß.
Ab diesem Vorfall sah ich den alten Herrn nur noch selten. Er schien nicht mehr so oft auszugehen. Vielleicht verkehrte er jetzt auch in anderen Lokalen, oder er war für längere Zeit verreist. Möglicherweise hielt er sich auch in seiner Geburtsstadt Preßburg auf, das jetzt Bratislava hieß. Jedenfalls sah ich ihn längere Zeit nicht mehr. Es war, als sei er wie vom Erdboden verschwunden, als hätte er sich unsichtbar gemacht, als sei er wieder in sein Schneckenhaus zurückgekrochen. Ich vermißte ihn und die Begegnungen mit ihm. Das mir schon vertraute Begrüßungsritual fehlte mir; vor allem sein Gesicht, das nun aus meinem Leben verschwunden war. Ein Platz, an dem früher etwas gewesen war, war plötzlich leer geworden.
Aber auch ich hatte begonnen, mich von den vielen Treffen mit Freunden und Bekannten, von den früher häufigen und intensiven Nachtgesprächen und hitzigen Diskussionen in jenem Café, wo der alte Herr und ich uns immer begegnet waren, zurückzuziehen. Immer weniger interessierten mich diese pseudophilosophischen Scheindiskussionen um Existentialismus und über den Sinn des Lebens. Ich begriff, daß die Wirklichkeit des Lebens und der Geschichte in den Ereignissen und ihren Auswirkungen lag und nicht in der Philosophie, nicht in Hypothesen, die beliebig aufgestellt, diskutiert, als Evangelium ausgerufen oder verworfen wurden und von denen eine die andere je nach Zeitgeist und Mode ablöste. Ein intellektuelles Spiel war das, mehr nicht. Einschneidende Ereignisse veränderten etwas. Das weltpolitische Geschehen war wichtig. Das war entscheidend für das Leben, für die Geschichte, für die Welt. Die Ermordung des amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy war ein solches Ereignis, ein Wendepunkt. Dann der Krieg in Vietnam, die Ermordung von Martin Luther King, die Watergate Affäre. Das Leben spielte sich nicht in künstlichen Paradiesen ab, sondern draußen in der Wirklichkeit. Oder vielleicht auch im Kopf eines einzelnen, so wie in dem des mir bekannten alten Herrn.
Ich hatte ihn wiedergetroffen; eines Nachts, da ich lange nach Mitternacht wieder einmal jenes Café betrat, weil es das einzige Lokal war, das um diese Zeit noch geöffnet hatte. Er saß so wie früher an jenem Tisch, an dem wir uns einmal vor langer Zeit einander vorgestellt hatten. Er saß genauso bewegungslos und in sich versunken da, schaute mit seinen großen dunklen Augen irgendwohin in die Ferne, wie auf einen bestimmten Punkt. Er hatte seine Zigarette zwischen den Fingern und den kleinen, schon kalt gewordenen Mokka vor sich auf dem Tisch. Alles war so wie früher und mir bekannt und vertraut. Wir grüßten einander, aber ohne uns beim Namen anzusprechen, nur mit einem leichten Kopfnicken in Richtung des anderen. Ich wagte es nicht, ihn zu fragen, ob ich an seinem Tisch Platz nehmen dürfe. Und auch er machte keinerlei Anstalten, mich dazu einzuladen. Eine unsichtbare Grenze schien wieder zwischen uns gezogen worden zu sein. Jeder war und blieb in seinem Bereich, so wie früher, wie am Anfang unserer Begegnungen. Auch unsere Blicke trafen sich nicht, nachdem ich etwas entfernt von ihm, aber doch in seiner Blickrichtung an einem der Tische Platz genommen hatte. Auch ich rauchte und blätterte gedankenlos in einer Zeitung. Ich vermied den Blick hin zum alten Herrn und ich war mir sicher, daß er umgekehrt das Gleiche tat.
Es war schon sehr spät geworden, schon nach zwei Uhr. Um diese Zeit sperrte auch dieses Café zu. Der Ober räumte schon alle Wassergläser weg, sagte „Austrinken, bitte!“ und stellte die Stühle mit der Sitzfläche nach unten auf die großen runden Marmortische, öffnete weit die Tür. Die Zeit des Aufbruchs war da. Ende des Aufenthaltes hier. „Morgen ist wieder ein Tag“, sagte die Chefin. Ich zog meinen Mantel an - es war schon Spätherbst und draußen kalt - und ging zur geöffneten Tür. Der alte Herr hatte sich ebenfalls von seinem Sitz erhoben und war gerade dabei, sich seinen Mantel anzuziehen. „Darf ich -?“, fragte ich beim Vorbeigehen, und half ihm in seinen schweren Mantel. Gemeinsam verließen wir das Lokal. Ohne ein weiteres Wort schlug ich mit ihm die Richtung ein, in die er nach Hause zu gehen hatte. Anfangs sprachen wir nicht miteinander. Doch plötzlich fragte mich der alte Herr: „Was haben Sie übrigens mit den Fotos gemacht, die Sie damals bei jenem Vorfall mit den Neonazis geknipst haben?“ Ich erzählte ihm, daß ich sie im Anschluß an die Affäre verschiedenen Tageszeitungen und auch der Polizei angeboten habe, aber daß sich niemand dafür interessierte. Das seien „nur ein paar Spinner“ - so die allgemeine Resonanz damals. „Ja, so ist das“, sagte der alte Herr.
Warum er immer so spät und bis tief in die Nacht hinein in diesem oder in einem anderen Kaffeehaus sich aufhalte, er sei doch schon, mit Verlaub, ein etwas älterer Herr, fragte ich ihn. „Weil ich nicht schlafen kann, weil ich keine einzige Nacht schlafen kann, nicht mehr schlafen konnte, nach Auschwitz“, sagte er. „Immer diese Gesichter, diese Bilder, die ich schon tausende Male gesehen habe, in Wirklichkeit, im Traum, bei Tag und bei Nacht. Ständig begleiten, ja verfolgen mich diese Gesichter. Immer sehe ich die großen, weit aufgerissenen Augen und die offenen Münder der Toten; und die harten, ausdruckslosen Gesichter, diese Maskengesichter der Täter, der Schergen, der SS-Wachleute und KZ-Kommandanten. Und ich höre das Bellen der Hunde, das Schreien der Gefolterten, die Schüsse am elektrisch geladenen Stacheldraht; und ich spüre das lautlose Sterben so vieler in der Nacht. Und ich sehe die schwarzen Züge des Todes, die Nachschub bringen aus ganz Europa. Und ich sehe die Menschen, in das grelle Scheinwerferlicht getaucht und wie sie in Auschwitz-Birkenau die Züge verlassen, an der Rampe in langen Reihen aufgestellt sind und wie sie selektiert werden: die einen für den sofortigen Tod, die anderen für eine wie zufällig noch gewährte, unabsehbare Lebensfrist, für einen vorübergehenden Aufenthalt in der Hölle. Und immer rieche ich noch den süßen Geruch verbrannten Fleisches und sehe den Rauch aus den Schornsteinen der Krematorien. Und wenn ich Asche sehe, Asche meiner Zigarette zum Beispiel, dann denke ich an ausgelöschtes Leben, an das was davon übrigbleibt, von uns allen. Alles wird zu Asche; das ist das Einzige, was es dann von uns noch gibt. Und auch die verweht der Wind.“
Der alte Herr atmete mühsam und mit dem Mantelärmel wischte er sich die Tränen aus den Augenwinkeln. Ohne ein Wort gingen wir den Weg weiter. Dann sagte er nach einer Weile: „Und weil ich nicht schlafen kann und alle diese Gesichter mich bis in den Schlaf hinein verfolgen, bleibe ich wach, oft die ganze Nacht, viele Nächte hindurch, bis ich dann doch vor Erschöpfung einschlafe. Und in diesen Nächten male ich diese Gesichter und die mir bekannten Szenerien, ich male die Wirklichkeit des Todes und die Wirklichkeit des Menschen, wie sie in Auschwitz war. Ich habe in all den Jahren in diesen Nächten meine Bilder gemalt; viele, viele Bilder, ich weiß gar nicht wieviele. Wenn ich mit einem Bild fertig bin, sehe ich es nicht mehr an. Ich stelle es zum Stapel der anderen und beginne ein neues. Und so überdeckt jedes neue Bild das vorherige. Und alle Bilder stellen das Gleiche dar: den Menschen in seinem Leiden, aber auch in seiner nur ihm möglichen Grausamkeit. Mensch und Unmensch, das ist das Thema. Und Auschwitz natürlich, als Inbegriff all dessen, was die Wirklichkeit des Menschen ist, sein kann. Ich stelle dar, was und wie alles gewesen ist. Das ist meine Welt, in der ich lebe, in der ich auf diese Weise überlebe. Ein anderes Leben gibt es für mich nicht, nicht mehr.“
Wir waren schon fast am Ende des Weges, ganz in der Nähe des Hauses, in dem der alte Herr wohnte und wo er nachts seine Bilder malte. Es war kalt, mich fröstelte, und es hatte zu schneien begonnen. Der erste Schnee! Die weißen Schneeflocken schwebten vom Himmel herab durch die uns umgebende Nacht lautlos zur Erde nieder. Auf dem weißen gewellten Haar des alten Mannes sammelten sich einige Flocken und zerschmolzen dort. Der alte Mann ging schweigend und wie mir schien noch tiefer gebeugt als kurz vorher neben mir. Wir näherten uns dem Haus, es lag im Dunkel, kein Fenster war erhellt, kein Licht leuchtete. „Es ist immer die Nacht“, sagte er, „in die wir hineingehen und in der wir am Ende auch verschwinden.“ Ein mir unbekanntes Gefühl für diesen alten Mann, für diesen Menschen, der mir sein Leben geoffenbart hatte, stieg in mir auf und rührte mich fast zu Tränen. „Aber es gibt morgen auch einen neuen Tag“, hörte ich mich sagen. „Ja“, erwiderte der alte Herr, „es gibt wieder einen neuen Tag“; und nach einem Atemzug fügte er hinzu: „auch für mich, vielleicht“.
Copyright © by Peter Paul Wiplinger
DER SCHOPPER LOISL
Ich sehe ihn noch vor mir: den Schopper Loisl; in seinem braunen, etwas zu kurzen Popelinemantel; mit der billigen Kodak-Instamatik in der Hand; wie er auf dem Marktplatz stand, am Fronleichnamstag, und die Bürgergarde fotografierte; und nach jeder Aufnahme lachte. Immer war er am Fronleichnamstag bei der Prozession in Haslach. Und immer fotografierte er; einfach so, zu seinem Vergnügen. Er fotografierte den Herrn Pfarrer mit der Monstranz und den Kaplan mit dem Weihrauchfaß unter dem von kräftigen Männern getragenen Baldachin, dem „Himmel“; die Ministranten, die Pfadfinder mit ihren Fahnen und Wimpeln; die Katholische Jugend, die Goldhauben-Frauen, die Kopftüchl-Bäuerinnen; die weißgekleideten Mädchen und die Buben, die Blumenblätter - meist rote von den gerade erblühten Pfingstrosen - aus kleinen Körbchen vor dem Allerheiligsten auf den Weg streuten; den Gendarmeriekommandanten, den Bürgermeister; die Männer vom Kameradschaftsbund in ihren Landestrachtanzügen mit den Orden, z.B. dem Eisernen Kreuz, an der Brust; die Feuerwehr, die Bürgergarde, die Blasmusik. Er liebte anscheinend Uniformen, Kommandos, Pathos und Pomp. Er fotografierte alles; wofür, das wußte niemand. Und immer lachte er verschmitzt dabei oder schaute verwundert in die Menge und auf das Geschehen. Jedenfalls erfreute er sich sichtlich an diesem alljährlichen Schauspiel, an dem er aber nie selbst als Prozessionsgänger teilnahm. Immer stand er irgendwo am Rand des Geschehens oder ungeniert mitten auf dem Platz. Niemanden störte das. Er gehörte einfach dazu; bei jeder Fronleichnamsprozession in Haslach an der Mühl.
Der Schopper Loisl lebte damals schon im Bezirksaltersheim in Kleinzell. Dort hatte er so etwas wie ein Zuhause gefunden, an seinem Lebensabend. Der Schopper Loisl war nach Meinung der Leute - vielleicht aufgrund seiner Sprechbehinderung - „geistig behindert“; jedenfalls glaubte man das. Ein „Mohnlutscher-Kind“, soll er gewesen sein, sagte man. Manchen plärrenden Kindern gab man nämlich früher bei uns auf dem Land einen Mohnzutzler, einen mit Mohnsud getränkten Fetzenluller, damit sie ruhig waren und bei der Arbeit nicht störten. Manchen Kindern gab man zuviel und zu oft davon; diese behielten dann bleibende Schäden, waren später geistig behindert, nicht ganz richtig im Kopf. Beim Schopper Loisl, so sagte man, soll das auch so gewesen.
Der Schopper Loisl hat die Nazizeit überlebt. Gottseidank! Andere so wie er hat man damals zu tausenden in Hartheim vergast. Euthanasie nannte man das. Aber darüber sprach man nicht; auch nicht nachher, nach der Nazizeit. Und es schien auch niemanden sonderlich aufzuregen, was da geschehen war; schon gar nicht jene, die bei den Nationalsozialisten aktiv dabeigewesen waren, sich vielleicht sogar hervorgetan hatten. Nein, die waren alle bald wieder voll integriert in die Ortsgemeinschaft, auch wenn sie darin eine eigene Gruppe bildeten. „Die Ehemaligen“ nannte man sie. Und man wußte genau, wer dazugehört hatte. Man wußte aber nicht und interessierte sich auch nicht dafür, was sie damals in der Nazizeit wirklich irgendwo getan hatten. Alle hatten sowieso nur ihre Pflicht getan; so sagte man. Da und dort kommandierte dann vielleicht so ein Ehemaliger nun als Major die Bürgergarde; gab beim Segen mit dem Allerheiligsten das Kommando „Achtung! Zum Gebet! Feuer!“ Und dann schoß die Kompanie mit Platzpatronen in die Luft. Das war ein Theater. Da stand kein Partisanengesindel zur Exekution an der Wand. Und der Schopper Loisl, der meist irgendwo auf dem Platz oder am Rand des Platzes herumstand, fotografierte dann alles zu seinem Vergnügen; und lachte dabei.
Copyright © by Peter Paul Wiplinger
DER SCHOTTI
Die Kirschen leuchten so rot. Ich habe sie auf den Tisch hingestellt, in einer blauen Schüssel. Der Tisch steht auf den weißen Fliesen, hingerückt an die Wand, gegenüber vom Bett mit der weißen Bettwäsche, auf der Schotti’s bleiches Gesicht wie hingebreitet liegt. Nur seine schwarzen Haare bilden einen Kontrast zu allem rundherum. Das Abendlicht fällt mit den letzten Sonnenstrahlen durch das vergitterte Fenster herein; die Gitterstäbe werfen Schatten über das Bett und Schotti’s Kopf, so daß er in diesem Schattengeflecht wie gefangen erscheint. Der Schotti aber ist hier gefangen in diesem Raum, in dem nur sein Bett und der weiße Tisch stehen, sonst nichts; nicht einmal ein Stuhl. Man erwartet hier in der Isolationszelle des Psychiatrischen Krankenhauses keinen Besuch mehr für den Todkranken. Der Schotti schläft tief, er ist von starken Medikamenten so betäubt, daß er kein Lebenszeichen von sich gibt.
Was für ein Kerl war er einmal gewesen: voll Kraft und Lebensfreude, manchmal übermütig wie ein Lausbub, dann aber auch wieder aufbrausend und zornig, unbeherrscht. Immer gab es bei ihm Überraschungen, Nichtvorhersehbares. Unberechenbar war er gewesen, der Schotti; damals, als er noch gesund war.
Eine fröhliche Gruppe waren wir gewesen, bunt zusammengewürfelt. Jeder studierte etwas - Medizin, Philosophie, Literatur, Musik. Fritz arbeitete im Atomreaktor Seibersdorf, war eigentlich Naturwissenschaftler, kannte sich aber in der Literatur, vorallem in der spanischen sehr gut aus. Jascha wiederum spielte gerne abends den „Damen” etwas auf seiner Geige vor. Der Deutsche erklärte uns in Deutscher Gründlichkeit die Welt und alles, was sich in Politik und Gesellschaft, Wissenschaft und Kultur auf dem Globus abspielte. Jedesmal zog er uns in stundenlange Diskussionen hinein.
An diesen Gesprächen beteiligten sich immer die gleichen Personen; nur der Schotti war nie dabei. Der mochte solche „sinnlosen Diskussionen”, wie er sagte, nicht. Ihn interessierte das viele Gerede nicht. Er bewegte sich in anderen Bereichen, nämlich in denen der Phantasie und der Kunst. Stundenlang saß er oft über ein Blatt Papier gebeugt und machte seine „Kritzeleien”, wie ich das nannte; mit schwarzer Tusche und einer selbstgefertigten Rohrfeder. Wenn ich ihn fragte: „Schotti, was wird denn das, wenn es fertig ist?”, antwortete er jedesmal: „Wirst’ schon sehen! Auf jeden Fall wird es großartig!” Das sagte er ganz ernst und nicht mit dem Ausdruck von grenzenloser Selbstüberschätzung. Wenn ich nach einer Weile zurückkam, zeigte er mir das Blatt und sagte: „Na, was sagst du, ist es nicht großartig?!” Ich nickte dann nur stumm, denn verstehen konnte ich die Kritzelei nicht. Wenn ich ihn dann noch fragte: „Schotti, was stellt das denn dar oder was bedeutet es?”, dann sah mich der Schotti mit großen Augen an und gab feierlich zur Antwort: „Na, die Kunst, das Leben, die Wege, die Irrwege, einfach alles! Siehst du das denn nicht?!”
Das war die eine Seite des Schotti, die nach innen gekehrte, die stille, vielleicht auch dunkle Seite seines Wesens. Die andere war dem Leben zugewandt; die war hell, stürmisch, polternd, laut. „Heute schreit das Leben wieder in mir”, sagte er dann. Oder: „Heute könnte ich die ganze Welt umarmen, so freut sie mich.” Mir war das zu emphatisch. Manchmal aber steckte er mich auch an mit seiner guten Laune, mit seinem Temperament, mit seiner aufwallenden Lebensbegeisterung und Lebenslust. Er riß mich dann für Augenblicke mit in diese helle, farbenfrohe Welt, die es in seinen Bildern und in meinem Denken nicht gab. Dann machten wir irgend etwas„Verrücktes”, irgendwelche Streiche, lausbubenhafte Dummheiten.
Er liebte Überraschungen, die wir anderen dann machten. Sei es, daß wir einen Korb mit schönen Äpfeln vor einer Eingangstür abstellten oder ein abgestelltes Fahrrad an einer Planke anketteten. Einmal war es ein rostiges Messer, das wir im Gras gefunden hatten, und das er mit einer heftigen Bewegung in eine alte Haustüre rammte, daß das Messer federnd im Holz stecken blieb: wie eine Drohgebärde, wie ein Zeichen der Warnung. Manchmal erschrak ich über den Schotti, wenn er so „außer sich” war.
„Über den Wolken muß die Freiheit wohl grenzenlos sein...” sangen wir gemeinsam, wenn wir in einer solchen Stimmung waren. Das war unser Ausdruck für unser Lebensgefühl, zugleich aber auch die Proklamation unseres Lebensprogrammes. Freiheit! Das war es, was wir wollten im Leben und in der Kunst. Als der Schotti dann einmal mit einem aufgespannten Regenschirm vom Dach einer Garage sprang und dabei wie verrückt schrie: „Jetzt kann ich fliegen!”, sich dabei Arme und Beine blutig schlug, fand ich das schon bedenklich und ich fragte mich, was denn mit dem Schotti los sei. Dann war der Schotti plötzlich krank und kam ins Spital. Ich besuchte ihn. Er lag damals schon in dieser Anstalt, mitten in einem großen Saal. Er freute sich, als er mich sah und begrüßte mich herzlich. Wir sprachen über alles Mögliche. Als die Besuchszeit zu Ende war und ich gehen mußte, rief er mir nach: „Das nächste Mal, wenn du mich besuchen willst, bin ich schon draußen!”
Das nächste Mal fand ich den Schotti nicht im gleichen Saal. Ich erkundigte mich bei einem Pfleger, wo denn der Fritz Schottkowsky jetzt sei. Er antwortete mir: „Der liegt schon drinnen im Saal, nur an einem anderen Platz; doch Sie werden ihn vielleicht nicht mehr erkennen.” Der Schotti lag als zuckendes Menschenbündel in einem Gitterbett. Das Bettzeug war schmutzig, mit einigen Blutflecken darauf. „Er kratzt sich immer wieder auf”, sagte der Pfleger, „da hat es keinen Sinn, lange herumzutun.” Ich schwieg, stand sprachlos da vor Schotti’s Bett. Dann berührte ich seine Hand. „Schotti”, sagte ich leise, „ich bin’s.” Da öffnete er unendlich langsam seine Augen und sagte: „Ah, du bist es, schön, daß du da bist.” Dann schloß er sie wieder, müde und erschöpft.
Ich ging auf den Gang hinaus, wartete eine Weile und dachte nach, was ich jetzt tun sollte. Ich betrat wiederum den Krankensaal. Da war der Schotti aber schon hellwach und lächelte mich tapfer an. „Was haben sie denn mit dir gemacht? Weißt du, wie du aussiehst?”, fragte ich ihn. Er nickte verlegen. „Weißt du”, sagte er, „wir sind hier im Irrenhaus; da können die alles mit dir machen, was sie wollen; und du kannst dich nicht dagegen wehren.” - „Das ist ja furchtbar!”, entgegnete ich. „Ja”, sagte er, „aber so ist es eben. - Eine Zigarette könnten wir rauchen, gleich hier im Saal”, meinte er. Ich holte das Päckchen aus meiner Hosentasche. Da kam auch schon der Pfleger und sagte barsch: „Der da darf nicht rauchen. Der Idiot hat letztens das Bett angezündet; seither ist nichts mehr mit dem Rauchen für ihn.” Ob er, der Pfleger, denn nicht auch rauche, fragte ich ihn; und ob er sich vorstellen könne, wie schwer es sei, plötzlich nicht mehr zu rauchen, schlagartig aufhören zu müssen. „Ja, das weiß ich”, sagte der Pfleger lachend, „ich kenn’ das; aber das ist bei mir etwas ganz anderes als bei dem da”, womit er den Schotti meinte. Und er fügte etwas leiser und vom Bett abgewendet hinzu: „Der da macht’s ohnedies nicht mehr lange.” Und dann ging er.
„Schotti, wir dürfen hier nicht rauchen, du hast letztes Mal mit der Zigarette das Bett angezündet”, sagte ich. „Klar dürfen wir”, sagte er; „wir sind hier im Irrenhaus, da darfst du alles machen, was du willst; nur bestraft wirst du dann später”, fügte er hinzu; „fürchterlich bestraft!” Und dabei deutete er auf zwei dunkelrote Flecken an den Schläfen, die ich vorher nicht beachtet hatte. „Weißt du”, sagte er, „ich spüre nichts mehr an meinen Fingern, auch nicht, wenn die Zigarette meine Finger verbrennt; ich vergesse es, daß ich eine Zigarette zwischen den Fingern halte und ich merke es erst dann, wenn die verbrannte Haut stinkt. So war das auch mit dem Bettanzünden. Und diese Idioten sagen, ich hätte es absichtlich gemacht; einen Suizidversuch, verstehst du!” Ich verstand. Wortlos nahm ich eine Austria 3 heraus und zündete sie mir an. Da stand auch schon der Pfleger an der Tür. Ich ging zu ihm hin, steckte ihm einen Geldschein zu und sagte „Ich darf ja rauchen, nicht wahr!?” Dann machte ich einen tiefen Zug und blies ihm den Rauch ins Gesicht. Ich ging zu Schotti’s Bett zurück und hielt ihm die Zigarette an den Mund; er atmete gierig den Rauch ein, hustete ihn aber gleich wieder aus und lief ganz rot an im Gesicht. Dann lachte er. Die Fenster und die Türen zur Gartenseite hin standen offen. Es war Sommer. Von draußen konnte man das Gezwitscher der Vögel hören. Die Amseln schrien laut. Es ging schon gegen Abend. Wann er denn das letzte Mal draußen im Garten oder auf der Terasse gewesen sei, fragte ich den Schotti. „Ich weiß es nicht mehr”, sagte er; „es war in einem anderen Leben”, fügte er hinzu und sah mich traurig an. „Schotti, ich muß gehen”; sagte ich; „es hat schon geklingelt.” „Ja”, sagte er tonlos und schon mit geschlossenen Augen, „ja, ist recht.”
Und nun stehe ich an seinem Bett, in dieser Kammer. Und da liegt der Schotti, der sich sowieso nicht mehr rühren kann, und er ist verschnürt wie ein Bündel. Die Kirschen wird er nicht mehr essen können, denke ich; aber ich lasse sie ihm da, vielleicht sieht er sie wenigstens noch und freut sich. Es ist dämmrig geworden. Die Sonne ist untergegangen. Von draußen auf dem Gang höre ich Stimmen und Geräusche. Das Abendessen wir ausgetragen. Türen schlagen zu. „Schotti”, sage ich leise, „ich muß jetzt gehen.” Und dann mache ich ganz langsam die Tür hinter mir zu. Bevor ich sie aber hinter mir schließe, sage ich noch durch den Türspalt zurück hinein in das Zimmer: „Servus, Schotti!“ Und: „Gute Reise, mein Lieber, auf deinem Weg!” Vielleicht hat er diese Worte zum Abschied noch gehört.
Copyright © by Peter Paul Wiplinger