Natalia Gorbatyuk Poesie

Natalia Gorbatyuk wurde in Odessa geboren. Lyrikerin und Übersetzerin. Seit 1995 lebt sie und arbeitet in Potsdam. Autorin von zwei Gedichtbänden "Von Montag bis Freitag" (1999) und "Schlaflosigkeit"(2002), Begründerin der „Literarisch-künstlerischen Werkstatt „Potsdam“, Mitglied des „Verbandes der russischsprachigen Schriftsteller in Deutschland e.V.“, Herausgeberin und Redakteurin der deutsch-russischen literarischen Anthologien in der Reihe „Brandenburgisches Mosaik»: "Lichtschatten", "Konturen", "Silhouetten", "Horizonte" und "Kontraste".

Sie ist Kulturbeauftragte der Jüdischen Gemeinde Potsdam e.V. und Chefredakteurin der literarisch-künstlerischen zweisprachigen Internet-Zeitschrift „LiK“.

Heimweh

Bin ich des Schicksals Hausherr oder Gast?

Weiß ich, woher ich komme, wer ich bin?

Erinnerung trag ich wie eine Last

mit mir und frage mich: Wohin, wohin?

Ich denke an verlorne Zärtlichkeit

aus Kinderjahren, als ich unterm Schnee  

nach Blumen grub. Nun ist Geborgenheit

unwiederholbar und tut weh, tut weh.

Wo sind die Spuren, die ich hinterließ,

die Freunde, die mit mir von Meer zu Meer

gestürmt, ergriffen, was uns Glück verhieß

und wussten nicht, wo kommt es her, woher?

Besonnenheit war unsre Stärke nicht.

Begeisterung schlug die Erfahrung aus.

Sie unterordnete sich keiner Pflicht,

und leben hieß für uns: Hinaus, hinaus!

Gewitter gibt’s im Mai auch hier im Land,

den Duft der Felder in der Erntezeit

und manche freundlich ausgestreckte Hand,

die helfen will, zu lindern Leid um Leid.

Ich habe eine Wohnung, Mann und Kind

und liege dennoch in den Nächten wach,

lausch deutschen Birken bis zum Morgenwind, 

die ukrainisch singen, ach, ach, ach!


Meine Enkelin

                                                  Für Olivia

Sie runzelt ihre Stirn schon wie die Alten.
Die Fädchenbrauen machen steile Fältchen,
doch ihre Hand versteckt sie in der meinen.
Ich spüre ihren Herzschlag in den feinen

Verzweigten Äderchen, in denen sich
Das russisch-deutsche Blut der Eltern mischt.
Und ich umarm das warme Krümchen Leben,
als könnte es mir irgendjemand nehmen – 

wie Wind dem Nussbaum Blatt um Blatt entreißt – 
dich, meiner tief geliebten Tochter Kind,
das nichts von unsren Schicksalswegen weiß,
in dem wir hoffnungsvoll verbunden sind.

Aus dem Sonetteskranz  „Vorfrühling“

15.
Kennst du die Zeit, von der ich heute träume,
die duftenden, verführerischen Tage,
an denen ich in den noch nackten Bäumen
schon reife Äpfel sehe und mir sage:

Was stört mich Ruß und Straßenbrei,
Tauwasserbrühe, die von meinem Dache
aufs Fenster fließt? Es geht etwas vorbei!
Am Rande des Kalenderblatts hält Wache

der ersten Frühlingsbote, eine Krähe.
Ich hör sie lachen über Winters Tricks,
der immer noch pastellgefärbte Nähe

mit seinem schmutzig-weißen Einerlei
beschatten will. Jedoch ein Pinselstrich
des März macht mir die Seele leicht und frei.

                                       ©Nachdichtung Walter Flegel

Regen in Paris

                                        An meinen Bruder

Der Regen beleckte Brüstungen von Balkonen,

war ein Joch, bog Rücken krumm

wirbelte zur Tscheschotka herum

den Tanz, auf dem Kapuzinow-Boulvard

Lauter einmal, mal dumpf sein Schlagen

und wenn Katzen Mäuse jagen

so bäumte der Wind die Pfützen, blies

sie zu Purzelbäumen, hindurch durch Paris

Im Wahnsinn der Regen, schon Sturm

warf er um sich mit Beute

drehte Stühle herum

zerstörte Cafes für die Leute

zerriss, wie ein Rosenkranz

den Cappuchino zu Tropfen, war

eine Tscheschotka der Regen, Tanz

auf dem Kapuzinow-Boulvard

Unvernünftig, Prahlen, sein Gehabe

er peitschte das Trottoir

eilte zur Kreuzung im Trabe

zum italienischen Boulvard

trommelte ohne Pause, kannte nicht Halt

fordernd das Recht erster Nacht, wie es einst galt

und so noch der Pariser Platanen harrt

zu schluchzen nach der Odessaer Art

Sie schrien, sie hatten geweint

doch er, ganz mit seiner neuen Rolle vereint

sachter, traurig, mit Traurigkeit voll

beschlich mich und von Schmerzen toll

trieb er Tränen edelsteingroß

aus durchscheinenden Tuch um den Schoß …

Mein Wanderartist, ich bang

nicht süß ist dein Leben, nicht lang.

                              ©Nachdichtung Jürgen Polinske
©  Natalia Gorbatyuk 

DER KOMPONIST SERGEJ KOLMANOVSKIJ

    STELLT SEIN DEM GEDENKEN AN REICHSKRISTALLNACHT GEWIDMETES ORATORIUM „TRAUERGESÄNGE“ VOR. DIE TEXTE SIND VOM ÖSTERREICHISCHEN DICHTER PETER PAUL WIPLINGER.

    www.besucherzaehler-homepage.de