Manfred Richter Archiv

Manfred Richter, 2013:

«Vor beinahe 85 Jahren wurde ich in Dresden geboren, halbwegs vernünftig wurde ich freilich erst viel später. Ich arbeitete im Bergwerk und studierte danach - Schauspiel, Pädagogik und Literatur. Mein Mentor war der bedeutende Schriftsteller und Antifaschist Louis Fürnberg.
Nach dem Staatsexamen engagierte mich das Deutsche Nationaltheater in Weimer als Hausautor. Später wechselte ich zur DEFA, um Drehbücher zu schreiben. Nach drei Jahren wurde ich allerdings aus politisch engstirnigen Gründen fristlos entlassen. Die DEFA jedenfalls stellte mich 1985 wieder als Drehbuchautor ein. Nach der Wende gründete ich mit Walter Flegel das Literaturkollegium Brandenburg e.V., in dem heute über 100 Schriftsteller Mitglied sind. Resultat meines bisherigen Lebens sind mehrere Theaterstücke -aufgeführt zwischen Paris und Moskau, und elf Spiel- und Fernsehfilme. Ein halbes Dutzend verbotener Drehbücher halten Dauerschlaf in meinem Keller. Außerdem veröffentlichte ich Kinderbücher, Erzählungen und Lyrik. Lustig ist die Übertragung meines Kinderbuches „Das Ei in der Trompete" ins Chinesische. Einige Literaturpreise erhielt ich zu DDR-Zeiten auch - trotz alledem. Die beiden letzten Arbeiten sind „Legende Lövenix", ein Roman über Gottfried Wilhelm Leibniz (2004) und „Jakobs Augen", die Erzählung über einen blinden Jungen (2005). 
Glücklich verheiratet bin ich mit meiner Ingrid seit über 42 Jahren.»

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LEBENSLAUF SCHREIBEN

Er saß vor der schmalen Schreibtischplatte und kämpfte mit seinem Lebenslauf. Die Aufforderung der Immatrikulationskommission, endlich alle Unterlagen einzureichen, steckte nun schon seit Wochen zwischen den Büchern.

Je länger er grübelte, desto komplizierter wurde die Sache, einfach lächerlich. Er entdeckte, dass er eigentlich gar nichts zu sagen hatte – Schulzeit, Facharbeiter und Abitur, Armeezeit, fünf, sechs Daten also, für die zehn Sätze gereicht hätten.

Thomas lehnte sich zurück, lag dösend im Stuhl und starrte die Bücher-rücken an. Die Titel konnte er kaum entziffern, da hätte seine Brille stärker sein müssen, aber er wusste auch so gut Bescheid. Vor ihm standen Stendhal, Scholochow, Strittmatter, Simonow, Schnabel, Shakespeare – seine Ersatzabenteuer, das Leben aus der Retorte.

Er spielte mit seinen Filzstiften, mürrisch, gelangweilt, zog glatte ausschwingende Striche, die sich wie von selbst zu Figuren schlossen, ein grüner Elefant, ein blaues Känguru, er malte dem Elefanten Blumen auf den Bauch, setzte dem Känguru einen Igel in den Beutel…

Was ist ein Lebenslauf?

Gut, die Immatrikulationskommission will Auskunft haben. Wer bist du? Von wannen kommst du? (Das passt, dieses ehrwürdig klingende Umstandswort passt hin!) Wes Standes sind Mutter und Vater? Gut proletarisch allewege, hoffen wir! Mitnichten, meine Herrn, Mutter war Hausfrau, dann Ärztin. Und Vater – proletarisch eine zeitlang, eine gute Zeit sogar, Hilfsarbeiter in der Lithographie- und Steindruckerei „Fürstenau & Co“, hat Zigarettenschachteln gedruckt, Millionen Zigarettenschachteln, später Etiketten für Ersatzzeug und noch später Ersatzetiketten für Ersatzzeug, Briefumschläge für die Feldpost, nummerierte Zeilen für die Post der Zuchthäusler und KZ-Häftlinge… Vater bei den Partisanen, darüber spricht er nicht gern, meine Herren von der Kommission, er prahlt nicht damit, selten, dass er seine Fotos herzeigt oder seine Auszeichnungen. Einmal, Thomas ging noch in den Kindergarten, hatte der Vater ihm die Orden in eine Blechschachtel gepackt. Die Vorschulpädagogen hatten sich das gar seltsame Thema „Papa und Mama sind meine Vorbilder“ ausgedacht. Eine der Medaillen hatte er getauscht, hatte für das blanke Ding von einem gewissen Karli, einem Fleischersohn, eine ganze Woche die Frühstückstullen bekommen und sie redlich mit den Katzen geteilt, die im benachbarten Ruinengrundstück streunten. Vater hatte gelacht, als die Sache heraus kam, er hatte zu Mutter gesagt: Der Junge hat einen Hang zum Altruismus.

Das Wort gefiel Thomas, natürlich verstand er damals nicht den Sinn. Erst Jahre danach, als er im Brockhaus die Erklärung fand, beeinflusste es eine gewisse Zeit seine Entwicklung, da kokettierte er mit dem „Gegenteil von Egoismus“.

Soll er das schreiben? Na! Soll er schreiben, dass Vater die „Vosta“ besuchte, die Vorstudienanstalt in Leipzig, und kein Geld hatte, um die läppischen hundert Kilometer nach Dresden zu fahren, als sein Sohn zur Welt kam? Vater wurde Richter an einem Kreisgericht, immer Partisan, prompt bekam er Ärger mit seinen Genossen dort, wurde gefeuert und endete als Schienenschleifer. Da saß er nachts krummbucklig hinter speckigen Stofflappen auf einem Schemel, zwischen den gespreizten Beinen fauchte eine Schleifscheibe, sprühte Funken, ebnete die Narben der Stahlnähte. Sommer und Winter ging das. Und Sommers ohne Regen mochte es angehen, aber der Winter, wenn nasser Schnee auf den Straßen glitschte und eisiger Wind unter die Wattejacke fuhr, die klammen Finger dann, das steife Kreuz. Damals hatte Vater sich das Nierenleiden geholt. Stand wie ein Baum, hatte Mutter gesagt, und plötzlich die Nierengeschichte. Und Vaters Rutsch vom Kreisgericht auf die Schienen, auf die nächtlichen Straßen, hatte Folgen auch für die ganze Familie.

Thomas bekam Schwierigkeiten in der Schule, er stellte eigentümliche Fragen, wurde trotzig, man löste ihn ab aus der Funktion im Gruppenrat der Jungen Pioniere. Und er zog die Pionierkleidung nicht mehr an, weil er den roten Streifen, der ihn als Mitglied des Gruppenrates auszeichnete, nicht vom Blusenärmel trennen wollte. Die schön geordnete Welt von Wilhelm Pieck bis hin zu ihm, zu Thomas Küttner, purzelte durcheinander. Aber er war noch zu jung, zehn Jahre, um wirklich begreifen zu können, was mit ihm geschah. Und diesen Vater noch zu haben, das wäre auch nicht übel. Heute war der längst gesund, auskuriert auf der sonnigen Krim, BGL-Vorsitzender, riesiges Werk, Heimfahrt im Wolga, mächtig geschäftig, Sitzungen, große Reden, alles Mögliche, bloß keine Zeit mehr und Straßenbahn auch nicht und schon gar nicht Straßenbahnschienen.

Nein, das war alles nicht beschreibbar, so viel Stirnrunzeln hielt keine Immatrikulationskommission ohne Kopfschmerzen aus.

Mutter wäre ein positives Beispiel, nicht gerade proletarisch, nein, aber einfach, überschaubar und mit einer tadellosen Entwicklung. Hausfrau zuerst, hat durchgehalten an Vaters Seite, auch dann, als es schwer wurde. Schwer war es ja nicht, als sie es mit allen anderen zusammen schwer hatten, wirklich schwer wurde es, als sie sich herausgerappelt hatten wie alle und dann unsanft wieder ganz unten landeten. Das ist schwer, schlechter zu leben als die Freunde, die Bekannten, plötzlich geschnitten zu werden, hinter dem Rücken Geflüster zu hören oder nichts, nur beharrliches Schweigen. Aber Mutter blieb bei Vater.

Und dann ihr Studium. Neunzehnhundertsiebenundfünfzig, er, Thomas, wolle gerade elf Jahre alt werden. Ich halte es nicht mehr aus, sagte Mutter plötzlich beim Abendbrot. Sie weinte einfach still drauflos und sagte: Ich muss was anfangen!

Vater schwieg lange, und dann fragte er: Wie denkst du dir das mit dem Jungen?

Da war er im Wege. Und sie dachten, er merkt es nicht. Frau Moosbach nahm ihn in die Arme, die Nachbarin, Oma Moosbach. Thomas hatte schon auf ihren knochigen Knien gesessen, als er sich noch mit „Altruismus“ quälte. Oma Moosbach legte die Arme um seine Schulter. Ihr weißes Haarkäuzchen, gedreht aus dünnem Zopf, roch nach der Brennschere, sie hatte ihn sanft gewiegt und leise gesummt dabei, kleine jüdische Lieder, und ihre Augen waren ganz weit weg, als sei sie blind.

Mutter studierte in Jena Medizin, dreißig Jahre alt, Abitur nachgemacht, das kleine Latinum und dann Medizin! Wichtig auch: Vater hat sie unterstützt, ist jahrelang in Dresden allein geblieben, hat ihn, Thomas, früh nach der Nachtschicht oder abends nach der Tagschicht von Oma Moosbach abgeholt. Er hat Schularbeiten mit ihm gemacht, die Strümpfe gewaschen, hat Drachen gebaut und Oma Moosbach gepflegt, als sie schwerkrank wurde. Da hat sich auch Vater prima gehalten, von Mutter keine Klagen. Was für eine schöne Welt!

Aber das waren alles nur Halbwahrheiten, Geschichten vom Herrn Keuner: „Gut das ist die Kugel, aber wo ist der Lorbeer?“

Mutter war während des Studiums nur selten in Dresden, ein- oder zweimal im Monat, zwischen den Eltern ging etwas vor, wovon er wieder einmal nichts wissen sollte. Und er hat es doch gewusst. Thomas dachte nur mit Scheu daran, ließ die tränenreichen Wochen nie bis an die Oberfläche seines Bewusstseins – einer von beiden, Vater oder Mutter, hatte ein, nun ein separates Erlebnis gehabt. Damals wäre beinahe alles vor die Hunde gegangen. Welcher Segen war da Oma Moosbach, wie robust sie sein konnte! Er hörte ihre Stimme noch im Kinderzimmer, nachts, wenn sie Mutter und Vater die Leviten las. Eines Tages dann waren alle Tränen getrocknet, für Thomas begann eine Zeit, in der er von allen ungeheuer verwöhnt wurde.

Und ihr Studium? Der Gedanke kam ja nicht aus heiterem Himmel. Mutter begann damit, als die Zwillinge gestorben waren. Anne und Dorle. Es waren Frühgeburten, Mutter war unterernährt, das hing mit Vaters Wechsel vom Kreisgericht auf die Straßenbahnschienen zusammen. Die Ärzte sagten: Vitaminmangel. Einmal brachte Vater ein Netz voll Apfelsinen mit nach Hause, eingekauft in dieser Westberliner Enklave, in Steinstücken, eins zu sieben der Kurs. Aber nicht einmal der Inkubator half, der machte es nur schlimmer, die Zwillinge lebten, aber sie waren unheilbar krank. Schäden im Gehirn. Wie quälte sich Mutter damals – vierundfünfzig, fünfundfünfzig war das. Die Zwillinge starben rasch hintereinander. Mutter wurde zur Kur geschickt und kam mit den Studienplänen zurück. Sie hatte schon nach Berlin geschrieben, direkt an Otto Grotewohl, und wegen ihres Alters um ausnahmsweise Unterstützung gebeten.

Und dann lebten sie zu Dritt von Vaters Lohn als Schienenschleifer. Für Mutters Stipendium war es zu viel, zum Leben zu wenig. Es war ja schon gut, dass der Studienplatz nicht bezahlt werden musste. Aber in Jena war die zusätzliche Miete für das möblierte Zimmer aufzubringen, die seltenen und langen Bahnfahrten nach Dresden kosteten Geld, Mutter brauchte teure Bücher. Manchmal waren am Monatsende noch Abschnitte auf den Lebensmittelkarten übrig, weil sie nicht alles kaufen konnten. Wie schwer es Vater und Mutter hatten, konnte sich Thomas erst lange danach vorstellen. Er hatte unter den Verhältnissen nie ernsthaft gelitten.

Er war noch immer mit seinen Filzstiften beschäftigt, fühlte sich unbehaglich faul und doch ganz wohl dabei. Das wäre etwas für die Psychoanalyse, überlegte er, Lebenslauf bedenken und Affen malen, Affen und blaue Kängurus.

Angenehm wäre es nicht, wenn Vater jetzt zur Tür herein käme. Woran sitzt du?

Am Lebenslauf.

Er würde ihm über die Schulter blicken und das Gesicht verziehen. Ich sehe schon, ein Franz Marc – blaue Pferdchen!

Kängurus, das ist ein Känguru! Der Igel da drin, das bin ich, ich kratze. Kannst ja sehen, das arme Känguru hüpft ziemlich verwirrt hin und her, hüpft vom Objektiven ins Subjektive, von der Sonne in den Schatten, von der Wahrheit in die Halbwahrheit, tut mir leid.

Vater würde sich auf die Couch setzen und auf einmal ganz müde und klein aussehen. Das kannte Thomas: Sein frischer, energiegeladener Vater konnte sich zu Hause schlagartig entspannen, in einen älteren, erschöpften Mann verwandeln. Dann hingen die breiten Schultern herab, als schleppten sie an einem Riesengewicht, und das straffe, stets sauber rasierte Gesicht, nach dem sich die Mädchen im Betrieb umdrehten, wurde plötzlich schlaff und wächsern bleich; lediglich die Augen behielten ihre wachsame Schärfe, ihre misstrauische. Ach, Moritz, und das nur, weil du irgendetwas nicht durchschaust, weil die blauen Kängurus vor deiner Alleswissermiene, vor deiner Pädagogenmasche wegflitzten.

Schlucken würde Vater und leise fragen: Wir haben die Lebensläufe seinerzeit anders geschrieben, warum machst du es so?

Weiß nicht!

Aber Vater war gerieben, so schnell konnte man ihm nichts vormachen. Er würde lächeln, vielleicht ein bisschen sarkastisch. Lässt also Kängurus hüpfen, eine Art Ersatz für mangelnde Dialektik, wie?

Das wäre typisch für Vater – gleich so hochgestochen, voll Verständnis, aber hoch über den Wolken. Thomas würde mit den Schultern zucken und ausweichen. Sie gefallen mir eben!

Aber blau sind sie selten, meines Wissens!

Da würde nun Thomas ein bisschen feixen. Sehr selten, Moritz, die gibt’s nur bei mir.

Vater würde nicken. Ein origineller Lebenslauf, eine Art Beichte, wie? Vergiss nicht zu unterschreiben, am besten mit einem anderen Tier.

Sie würden sich angrienen, verständnisvoll. Vaters Verständnis für alle möglichen Schwächen oder Späße war enorm, das machte ihn so liebenswert und unersetzlich.

Mit dem eigenen Lebenslauf war Thomas inzwischen keine Zeile voran gekommen. Er seufzte tief und melancholisch, zerknüllte das vollgeschmierte Blatt, die Affen und die blauen Kängurus, und warf es wütend durchs Zimmer. Er musste jetzt endlich ansetzen, er war doch nicht blöde, wusste, was die Immatrikulationskommission lesen wollte, wenn sie über seine Aufnahme an der Technischen Universität befinden sollte: Ich, Thomas Küttner, wurde dann und dann in Dresden geboren, die Eltern Gewerkschaftsfunktionär und Ärztin. Ich besuchte die Grundschule, wurde in die Pionierorganisation aufgenommen, dann Aufnahme in die FDJ, Oberschule, vollautomatische Entwicklung sozusagen, Standartmodell, aufgebrochen in die Zirkel gesellschaftlichen Lebens ohne eigenes Zutun, höchstens, dass er sich die Mühe gemacht hatte, gute Abschlusszensuren zu fangen und nicht allzu viel zu heucheln, bei Panitzky etwa, in Staatsbürgerkunde. Das Abitur schließlich, ziemlich mühelos, wenn man vom Prüfungsfieber absieht und vom Ehrgeiz.

Und was weiter? Nackte Daten, kein Fleisch, kein Blut, keine Wirklichkeit. Da glich ein Leben dem anderen, die halbe Oberschule hätte das schreiben können. Es war einfach lächerlich – einundzwanzig Jahre alt sein und noch nichts Erwähnenswertes erlebt zu haben. In seinem Alter war Vater beinahe schon bei den Partisanen, Ostrowski hatte neben Budjonny im Sattel gesessen, Georg Forster war als neunzehnjähriger mit Cook um die Welt gesegelt – Kapstadt, Neuseeland. Tahiti, Fidschiinseln, Feuerland… Für Thomas war kein Schiff gebaut und kein Sattel genäht. Natürlich hätte auch er das ein  oder andere erzählen können, das nämlich, was ihn wirklich erwachsen gemacht hat, was seinen Charakter, seine Leidenschaften, Sehnsüchte, Vorstellungen vom Leben geweckt und gebildet hat. Aber das Leben wird offenbar entscheidend nur von jenen Dingen beherrscht und gelenkt, über die wir nie oder doch nur sehr selten sprechen. Ein Lebenslauf gar ist weggelassenes Leben, sachliches Notat über Erfahrungen, die alles andre als sachlich sind. Sollte er vielleicht über Lilo Wiebeck und sein merkwürdiges Versagen schreiben?

Lilo Wiebeck – sie saß schräg hinter ihm in der Bankreihe, Oberschule, zehnte Klasse, machte Heinz Lesko schöne Augen, und es dauerte lange, ehe Thomas ihre Aufmerksamkeit erregt hatte.

Sie waren zu einer Exkursion aufgebrochen. Die FDJ-Schulgruppe hatte die Fahrt nach Weimar organisiert, gemeinsame Hinfahrt, Theaterbesuch, Busfahrt zum Ettersberg und gemeinsame Rückfahrt, Übernachtung in Erfurt und einer passt auf den anderen auf. Im Nationaltheater spielen sie ein revolutionäres Stück, richtig, es ging um die Matrosenaufstände, Kieler Bucht, Reichpietsch und Köbis. Genau erinnerte sich Thomas nur an eine Szene: das rollende Fass, ein Bierfass. Die Matrosen auf der Bühne sollten es anstechen. Attribut einer kleinen Siegesfeier nach gelungenem Streik, und eigentlich war es eine ernste Szene. Aber irgendetwas ging schief, das Fass fiel vom Hocker und rollte über die Bühne. Die Matrosen wurden plötzlich ganz natürliche Menschen, die hinter dem Fass herglotzten. Das rollte gemächlich über die Bühne auf die Zuschauer los, rollte genau auf Lilo Wiebeck zu. Lesko saß selbstverständlich neben ihr, Heinz Lesko, das Mathegenie, der blasse Streber, der gelbe Pinsel, Nationalpreisträgersöhnchen, Etagenwohnung am Großen Garten, chromblitzendes Motorrad und Schallplattenpartys für intime und ebenso exklusive Freunde, im letzte Augenblick sprang er auf, riskierte eine Flanke, die er bei Sportlehrer Fechner nie zustande gebracht hätte, riskierte sie und hielt das verrückte Fass auf, ehe es über die Rampe hopsen und in Lilos Schoß landen konnte. Na, der Jubel! Applaus und Lachen, Lesko wäre Held des Abends gewesen, wenn er sich nicht so eitel verbeugt hätte. Tatsache, er stand neben Lilo Wiebeck und verbeugte sich zum Publikum hin. Das war ein Spaß für alle, man rief „da capo!“, wollte gar nicht wieder aufhören, und die ratlosen Schauspieler waren für einen Moment völlig vergessen. Lilo musste Lesko erst mit sanfter Gewalt auf seinen Sessel herunterziehen, und Thomas glaubte gesehen zu haben, dass Lilo vor Scham am liebsten in der Bühnenversenkung verschwunden wäre. An diesem Abend hatte Lesko bei ihr ausgespielt, war einfach nicht mehr vorhanden, und Thomas hatte Glück, der sprang in dieses Vakuum – auch eine Flanke, über die Fechner gegrinst hätte.

Lilo nahm Thomas nach der Vorstellung mit ins „Rosel“. Er kannte dieses Café nicht, war ja überhaupt zum ersten Mal in Weimar. Es war ganz angenehm nach der dreistündigen Bühnenrevolution. Kleine Marmortische, Zigarettenqualm über den Köpfen, Geflüster überall, geheimnisvolles Klirren der Kaffeelöffel, der angeschlagenen Tässchen. Die Wände waren mit Stoff bespannt, vergilbte Stiche darauf, Stadtansichten, das Schloss, die Bibliothek, das Belvedere, natürlich der Frauenplan, das Goethe-Schiller Denkmal, und natürlich nichts von Buchenwald. Aber das war eigentlich klar, war klar, hier, in dieser Umgebung.

Lilo war einsame Klasse, da gab es nichts, sie saß hier, als gehörte sie hinein, erwachsen die Dame, zwanzig Jahre hätte ihr jeder gegeben mit der Brust. Und sie kicherte nicht albern, wie das andere gemacht hätten, lachte frei heraus, als sie artig an dem winzigen Törtchen löffelte und Thomas sagte:

Petit fours heißt bestimmt kleiner Furz.

Auch später, als er von Buchenwald redete, als er sagte: Ich denke immer, irgendwie müsste hier jeder ein bisschen an das KZ denken, aber es ist wie in allen anderen Städten, man merkt überhaupt nichts. Auch da reagierte sie nicht albern. Sie nickte nachdenklich.

Hab ich auch erst gedacht, sagte sie, besonders wenn ich die alten Leute gesehen habe. Aber die Gefühle sind für die entsprechenden Feiertage reserviert. Die Menschen sind so, man kann ja nicht immer damit leben, wer hält denn das aus.

Lilo rauchte, nippte an ihrem Kaffee und wippte mit dem Bein. Aber da wagte Thomas nicht hinzugucken, nur ein bis zwei Mal, wie aus Versehen, später, als sie einen Schoppen Rotwein getrunken hatten. Er beneidete Lilo um ihre Sicherheit und kam sich ziemlich einfältig vor. Nur gut, dass er nicht auch noch versucht hatte zu rauchen. Und dann sein unpassendes Blauhemd, das blaue FDJ-Hemd unter der Jacke, hier in diesem Café. Die anderen waren längst wieder in Erfurt, er wusste, man würde sie vermissen, von wegen gemeinsamer Rückfahrt.

Sie erwischten gerade noch den letzten Zug. Im Abteil brannte kein Licht. Sie waren allein, und Lilo vergaß zu rauchen und mit dem Bein zu wippen. Ihre Hände grapschten an ihm herum, der Rock rutschte hoch, und ihre Schenkel leuchteten blass, wenn draußen Lichter vorbeihuschte. Wie Nachtfalter flatterten ihre Hände, waren unter seiner Jacke, fummelten an seiner Hose. Oh, mein lieber Lesko, da ging Thomas mehr als ein Licht auf. Aber er saß wie ein Idiot, von Lilos Temperament in die Enge gequetscht, froh, dass endlich Erfurt kam.

Die Verhöre vor der FDJ-Leitung begannen noch in derselben Nacht und in den zerknautschten Kleidern. Das wäre alles bald vergessen gewesen – nicht vergessen blieb das andere, das Rattern der Schienenstöße, Lilos Atem, ihr naher, offener Mund, die unerträgliche Hitze – und seine miese Feigheit, später, beim Verhör. Er begriff erst lange danach, dass Angst und Schwäche ihre Ursache oft in Unsicherheit, in Unwissenheit haben. Noch heute war er der Meinung, dass er sich auf jede Barrikade stellen würde, jetzt und damals, dass er keine Auseinandersetzung und keine Schlägerei scheuen würde, wenn er wusste worum es ging, in politischen Fragen hatte er manchen Strauß ausgefochten. Aber die Verhöre damals, das stundenlange Auf-ihn-Einreden, der Appell an seine Selbstkritik, an das Kollektivbewusstsein und das schwere Geschütz moralischer Vorwürfe, das alles pustete ihn glatt um. Lilo schwieg die ganze Zeit überlegen, ging auf keinerlei Fragen ein, und in lichten Augenblicken begriff Thomas ihre Haltung sehr gut. Für keinen von denen, die da selbstgerecht vor ihm saßen und Moral predigten, hätte er auch nur den kleinen Finger ins Feuer gehalten. Wäre es darauf angekommen, sie hätten ihr alle unter den Rock gegriffen. Lesko als erster. Dennoch, sein Schuldgefühl war damit nicht ausgelöscht, sie bohrten so lange, bis sich bei ihm das schlechte Gewissen rührte und er einsah, dass er am nächsten Tag nicht mit nach Buchenwald hochfahren konnte, unwürdig wie er war. Und vor Schlimmeren rettete ihn nur Panitzky, der Stabülehrer, mit diesem neuen Begriff, mit dem Modewort Akzeleration, da klärten sich die Gesichter, es war ja auch schon beinahe früh drei Uhr, und alle waren müde. Um die Stellungnahme aber kam er nicht herum, die selbstkritische Einschätzung musste er, als sie von der Exkursion aus Weimar und Erfurt zurück waren, an die FDJ-Tafel pinnen. Lilos Namen erwähnte er nicht, so viel Anstand besaß er noch. Aber ihm war speiübel.

Das war nun lange alles vorbei. Lilo war verschwunden, nach dem Abitur hatte er sie nie wieder gesehen. Wenn es ein Roman sein könnte, wenn es nach seiner Phantasie ginge, wäre sie jetzt im Westen oder Fotomodell oder Bardame. Aber es war kein Roman. Lilo arbeitete jetzt vielleicht in Karl-Marx-Stadt als Betriebsökonom oder in Rostock als Bibliothekarin, kein Roman also – es war noch immer dieser ungeschriebene Lebenslauf.

1979

Vor 30 Jahren

Erinnerung an eine Reise

Das Kiewer Meer. Mittagshitze. Der Himmel wolkenlos wie Seidenpapier, bleiern das Wasser. Am Horizont Tankschiffe und auf der Betontreppe zum Ufer, die Mütze über den Augen, ein schlafender Angler. Ingrid, meine Frau, und ich hätten gern gebadet. Aber Juri packt Kuchen, Brot und Früchte aus.

Wir lagern unweit des Ufers unter einem Vogelbeerbaum mit knallroten Früchten. Seine Rispenblättchen knistern schon trocken zwischen den Fingern,

Juri Logvin, schmalschultrig, pfiffig, quicklebendig, den Kopf ewig mit einer Baskenmütze bedeckt. Ich frage, wie er eigentlich ohne sie aussieht. Er antwortet, das wisse nicht einmal seine Frau. Schriftsteller ist er und Maler. Jedenfalls zieht er eine Kollektion Holzschnitte und Federzeichnungen hervor, keines der Bildchen viel größer als eine Handfläche. Folklore zumeist, stilisierte Kastanienblätter, Recken auf dräuenden Pferden, einsame, symbolträchtige Musikanten, die des Weges ziehen, links und rechts vom Geflecht langhaariger Weiden umweht. Sucht aus, bittet Juri, nehmt, was euch gefällt!

 Er fährt schon seit gestern mit uns, zeigte uns Kiew. Nicht den Krestschatik oder den schönen Blick vom Wladimirhügel über den Dnepr, die goldenen Kuppel der Lawra und die Insel der tausend Badelustigen - Juri stieg mit uns zum Hafen hinunter, wir kraxelten mit ihm über das Katzenkopfpflaster der Mala Podwalnaja, einer alten Straße, wir durchstöberten ein verfallenes einstöckiges Häuschen (hier seien Bulgakows Turbins aus- und eingegangen, erklärt Juri), er beobachtete mit uns die wilden Tauben im Geäst hoher Kastanien und war dabei immer voll der lustigsten Schnurren.

 Juri führte uns auch in jenes beinahe versteckt liegende Kirchlein am Nordrand der Stadt. Die Wände bis zur Decke bemalt, rotbraun, blau und grün, 10. Jahrhundert, vielleicht die älteste Kirche dortherum. Und dann dieses Wandbild, kaum noch zu erkennen, wie feine Rötelstriche auf weiß-grauem Grund: der Himmel wird eingerollt. Nach dem Jüngsten Gericht, erklärt uns Juri, sei der Himmel überflüssig geworden, da es auf Erden nur Sünder gab. Nein, nicht das erschütterte. Aber dieser zarte, übergroße gotische Engel mit steilen, eckigen Flügeln, wie der Himmel unter seinen Händen zu einem Bogen Pergament wird, hier, in der schweigsamen Kühle, zwischen wuchtigen, bemalten Kirchenpfeilern - und wie Juri leise erklärte: „Dieser Hügel, auf dem die Kirche steht, hieß früher ,Alle Erde ist mit Blut getränkt'. Und nachher, liebe Freunde, gehen wir noch ein Stückchen bis nach Babij Jar hinauf..."

 Babij Jar war eine Hinrichtungsstätte der deutschen Faschisten. Niemand weiß, wie viele Menschen hier liegen einhunderttausend, einhundertfünfzigtausend jüdische Bürger? Wo jetzt junge Bäume stehen, keine 30 Jahre alt, war früher eine Schlucht. Die Menschen wurden in Massen erschossen, hingemäht von Maschinengewehren, Bulldozer schoben Erde über Tote und Halbtote, Platz für neue Leichen und wieder Erde - bis es keine Schlucht mehr gab. Das ist Babij Jar. Eine einfache Gedenkstätte heute, ein Stein, Blumenrabatten. Und dahinter die Bäume auf welligem Land.

 Kiew wurde Ende September 1941 okkupiert. Juri erzählt, es sei ein schöner, warmer Herbsttag gewesen.

 Ich kenne nun Fotografien. Ich werde keinem vom zerstörten Dresden erzählen können, ohne an Kiew zu denken. Die Okkupanten sprengten die Eisenbahnbrücke über den Dnepr, sprengten die Universität, die neunhundertjährige Maria-Tod-Kathedrale der Lawra, über tausend Industriebetriebe und über sechstausend Wohnhäuser. Allein auf dem Krestsehatik wurden dreihundertvierundzwanzig Häuser in die Luft gejagt - darunter das Konservatorium, das Schauspielhaus, das Kindertheater, die Theaterhochschule, der Zirkus. Beinahe zweihunderttausend Kiewer Bürger wurden umgebracht und über einhunderttausend nach Deutschland verschleppt. Auf der Fahrt nach Demidow, am Westufer des Kiewer Meeres entlang, sehen wir überall die Erinnerungstafeln, mit den Namen gefallener Partisanen, Soldaten, hingemordeter Bewohner - Friedhöfe inmitten grüner Anlagen. Sie stehen am Wegrand wie selbstverständlich in diesem Land, sind im Bewusstsein wie Dorfkonsum, Brotessen, arbeiten...

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Fahr nicht in die Ukraine, lieber Freund, ohne zuvor wenigstens eine Prise von Schewtschenkos und Kozjubinskis Schriften geschnupft zu haben. Hier nämlich liebt das Volk seine Dichter wie andernorts die Germanisten ihren Goethe. Steig die breiten Stufen vor dem Hotel ,Moskwa' hinunter, herunter auch von der eingebildeten Höhe, aus dem Volk der Dichter und Denker zu kommen, gehe über den Kalininplatz, vorbei an winkenden Milizionären, an Blumenrabatten, Taxihaltestellen - wenige Schritte nur, und du bist in der Schewtschenkogasse. Hier, in der ehemaligen Ziegensumpfstraße, im einstöckigen Häuschen des kleinen Beamten Shitnizki, schlug einst das Herz der Ukraine.

 Als Schewtschenko starb, war er so alt, wie ich heute bin - und sah aus wie ein Greis. Er wurde als Leibeigener geboren, blieb es vierundzwanzig Jahre lang, verbrachte zehn Jahre in der Verbannung und starb, ganze dreizehn Jahre seines Lebens frei, 1861, einen Monat nach der formellen Aufhebung der Leibeigenschaft.

 Was wusste ich schon von ihm? Gut, ich habe in seinem ,Kobsar' gelesen, kenne die wirklich schöne Kurella-Übersetzung der `Katarina´, ein bisschen Lebenslauf. Das ist nicht viel, das ist eigentlich gar nichts.

 Zum Museum laufen Ingrid und ich den Taras-Schewtschenko-Boulevard hinauf, eine breite, schattige Allee. In der Fahrbahnmitte eine Gehweg, einladende Bänke unter schnurgeraden Silberpappeln, Blumenbeete, gestutzte Hecken und kunstvolle Gitter, Am Eingang zum Boulevard steht, den spitzen Bart herausfordernd gereckt, Lenin in rotem Granit. Am westlichen Ende wacht auf gusseisernem Pferd Nikolai Stschors, Volksheld, Regimentskommandeur im Bürgerkrieg. Irgendwo dazwischen liegt das Schewtschenko- Museum.

 Eine junge Frau führt uns. Sie blinkert mit so strahlend blauen Augen unter langen Wimpern hervor, dass man darüber Schewtschenko und die Welt vergessen könnte. Die Begrüßung ist herzlich und schlicht. Aber plötzlich hat die Schöne ein Oberlehrerstöckchen in der Rechten, ihre Stimme bekommt jene Gewalt, die keinen Widerspruch und keine Fragen duldet - los geht's! Ein Zweistunden-Vortrag über Bücher, Handschriften, Bilder von Schewtschenko, Namen schwirren durch die Säle, die gesamte russische revolutionärdemokratische Intelligenz gibt sich ein Stelldichein: Tschernyschewski, Dobroljubow, Nekrassow, Iwan Annenkow, Belinski, Herzen - und mittendrin der über alles verehrte Taras Schewtschenko. Man darf der zeigestöckchenschwingenden Begeisterung und dem azurblauen Augenpärchen glauben: jeder geschriebene Satz Schewtschenkos richtete sich gegen die Leibeigenschaft, gegen die Willkür des Adels und der Großgrundbesitzer, jeder seiner Gedanken galt dem armen Mushik, den Knechten und Mägden der Ukraine. Und den letzten Platz werden die Mägde hoffentlich nicht eingenommen haben. Schewtschenko war, wie die Bilder zeigen, nebenher auch noch ein stattlicher Kerl.

 Dann dieses Bild: Porträt , Wassili Schukowski', Übersetzer und Balladendichter. Es ist von der Hand Karl Brüllows gemalt. Anlässlich einer Lotterie bekam Brüllow dafür 2500 Rubel. Mit diesem Geld kaufte er den leibeigenen Diener, den begabten vierundzwanzigjährigen Taras, späteren Schöpfer der ukrainischen Literatursprache, vom Gutsbesitzer Engeigard frei. Und mir kommt nicht zum ersten Mal in den Sinn, wie sehr sich doch die kolossalen Probleme der Menschen, die Widersprüche ihrer Zeit, mit größer werdendem historischen Abstand auf beinahe heitere Weise vereinfachen. Alles reduziert sich am Ende auf das Wesentliche. Wie schön wäre es, wenn die Kunst des Bewusstwerdens die Fähigkeit einschlösse, Wesentliches auch der Gegenwart schneller zu begreifen - ohne dabei an Heiterkeit zu verlieren.

 Vor der rot bemalten Universität steht Schewtschenkos Denkmal. Im Sockel die bescheidene Bitte aus seinem /Vermächtnis': „Und im neuen freien Bunde, / In der Brüder Kreise, / Denkt auch meiner dann mit einem / Wörtchen still und leise."

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Tags darauf fahren wir mit der amtlich bestallten Dolmetscherin Galina nach Kanjew, dort, auf dem Tschernetschja-Berg, wurde Schewtschenko beerdigt.

 Die Fahrt ist ermüdend und dennoch schön. Die Staatsstraßen durchs Land führen über Höhenzüge und durch Senken so konsequent geradeaus, dass der Fahrer, wenn nur die Räder spuren, eigentlich Domino spielen könnte. Und breit sind diese Magistralnyje, gesäumt von Wiesenstreifen und Sommerwegen« Hin und wieder taucht ein Dörfchen auf, strohgedeckte Hütten, bunt bemalte Zäune, ein paar Kühe, offenbar ´individuelle'.

 Rechter Hand ein neu gezimmerter Schöpfbrunnen. Helles Holz vor dunklem Wald. Pelargonien und Bänke laden zum Parken ein. Wir haben plötzlich Durst. Und dann das Dilemma, die Blamage: Wir kriegen das Wasser nicht aus dem Brunnenschacht. Iwan, unser Fahrer, lässt den Eimer hinab, tief unten, im Dunkeln blitzt es, wenn der Holzeimer auf den Wasserspiegel knallt. Aber dann schwimmt der verfluchte. Ich drehe am Schöpfrad, die Kette rasselt, Wasser plätschert - der Eimer aber bleibt leer. So blöd kann man sein! Wir versuchen alles Mögliche, lassen das Ding verkehrt herum hinabsausen, rütteln an der Kette, geben endlich auf. Galina und Ingrid lächeln ungeheuer nachsichtig. Wir Männer blicken verlegen und kaufen im Konsum Limonade.

 Die Fahrt geht nach Süden, Richtung Tscherkassi, Kagarlik, Mironowka. Ein LKW im Dorfteich, große Wäsche...

 Schewtschenkos Grabmal. Ein gewaltiger Rundbau. Treppen vom Ufer her, auf einer Art Obelisk der Meister in nachdenklicher Pose, den Mantel leger über dem Arm.

 Die Sonne sticht. Viele Menschen sind hier, ganze Familien, Väter tragen ihre jüngsten huckepack, Mädchen mit großen Schleifen im Haar. Man kauft Souvenirs (so billig wie in aller Welt) und Bücher (so billig wie nur in der Sowjetunion), sitzt am Wegrand in der Sonne. Bonbons, Limonade, Gelächter, Wodka und Trocken fisch.

 Zu Schewtschenkos Füßen ein riesiger Berg ganz frischer Blumen, meist Gladiolen, und es kommen immer neue hinzu. Man denkt hier seiner ,in der Brüder Kreise'.

 Hier, vom Tschernetschja, schweift das Auge in die Dnepr-Niederung. Blau das Wasser, weit fort winzige Schiffe, ihr Kielwasser wie die Kondensstreifen der Jäger am Himmel, am jenseitigen Ufer grüne Wälder bis zum Horizont.

 Und natürlich gibt es auch hier oben ein Museum. Fahrer Iwan lädt uns zum Nuß-Sahne-Eis ein. Es ist immer wieder ein beglückendes Erlebnis, dass es keinerlei soziale Unterschiede gibt. Der gescheite Iwan erzählt von Schewtschenkos unerfüllter Sehnsucht, am Ufer des Dneprs leben und arbeiten zu können. Mit Iwan unterhalte ich mich auch über die merkwürdige Zurückhaltung der deutschen Faschisten, über die Tatsache, dass sie zwar (wie denn sonst?) um das Museum einen Stacheldraht zogen und ein Lager einrichteten, dass sie jedoch Schewtschenkos Schriften zu großen Teilen duldeten, ja, sogar veröffentlichten. Sie versuchten, ihn zu okkupieren, um durch ihn nationalistische Bestrebungen in der Ukraine zu fördern.

 Iwan ist trotz der paar Sprachschwierigkeiten ein verständnisvoller Gesprächspartner. Und er hat einen schönen brummig-ironischen Humor. Als wir uns zum ersten Mal in sein Auto setzten, blickte er mich an und zitierte übergangslos: „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, dass ich so traurig bin..." Dann fuhr er schweigend an die zehn Kilometer, plötzlich nickte er nachdenklich: „Da, da - Genrich Geijne!" Ein andermal meinte ich zu ihm nach stundenlanger Fahrt: „Weißt du was, heute Abend stellen wir an, was du möchtest!" Da griente er, deutete mit dem Daumen zum Fond auf Galina und Ingrid und antwortete: „Nu gutt! Aber was machen wir mit diese Frauen?"

Tschernigow. Sdrawstwuij! Dobrij djen! Zurückhaltend noch, herzlicher bald, nach Borschtsch und Kaviar und Wässerchen'. Ach, der dicke, gutmütige, schwitzende Stanislaw Rebjak! Dichter, Übersetzer, Arbeit an Renate Feyls „Rauhbein“ (kennt ihr die? Klar doch!). Und seine Igeläuglein. Wer seid ihr, liebe Freunde, erzählt! Und obendrein alles in verständlichem Deutsch, Galina könnte große Pause haben, aber wir schwätzen alle durcheinander und trinken, trinken. Erst am Abend bin ich wieder halbwegs fit.

 Eulenflucht, Stunde zwischen Tag und Nacht. Die Stadt hat sich verändert, hält sich die Autos vom Leibe, gibt sich ganz den Zweibeinern hin. Das flaniert und poussiert, schlendert klipper-knapper eingehenkelt, straßenbreit, Rufe hin und her, spitzes Gelächter... Wir gehen, erlöst von der Tageshitze, unter Dämmerbäumen hin. Die Dunkelheit kommt wie auf Katzenpfoten. Lichtsignale - Kreisbahn der Papyrossi und manchmal auch der Uniformknöpfe eines Milizionärs. Die „Allee der Helden“ verwandelt sich in eine Allee der Liebespärchen. Und auf den Schultern der Marmormänner links und rechts des Weges nistet im Mondlicht shakespearesches Kichern. Hügel aufwärts, statt der Helden, uralte Kanonen. Zwölf Stück zählen wir, alle zwanzig Schritte, bis hin zur Kathedrale, ein Stück Erinnerung an Chmelnizkis Kosaken. Zwölf an der Zahl, und an der dreizehnten, die es gar nicht gibt, erzählt Stanislaw, verabreden sich die Mädchen mit den Jungen - wenn sie die Jungen satt haben. Neben der Kathedrale Schubsen und Drängeln, nächtliches Meeting, ein Tanzplatz. Es riecht nach Rauch und Wermut. Aus dunklem Gebüsch Harmonikaklänge. Die nun machen, dass einem die Kehle unerlaubt eng wird...

 Stanislaw trägt eine Beinprothese. Ihretwegen, gesteht er, ihretwegen musste er in einer anderen Stadt studieren. Natürlich will mir das nicht in den Kopf, ich hätte Fragen. Aber unser Freund wird einsilbig: Das war so! Gut, schweigen wir. Schweigen heißt ja auch, auf besondere Weise sprechen, so, wie wir schon in der Heldenallee über das vielen gemeinsame Todesjahr gesprochen haben - immer 1937/38...

*

Der letzte Abend. Wir laden Galina zu einem Abschiedstrunk ein.

 Unser Hotelzimmer liegt auf der Stadtseite. Zwölfte Etage. Es ist Mitternacht. Uns zu Füßen ein Lichtermeer. Auf dem Krestschatik die Scheinwerfer lautlos huschender Autos. Am Horizont die beleuchtete Sophien-Kathedrale. Dahinter, ein wenig links, die roten Warnfeuer des Fernsehturmes. Dort, in der Dunkelheit, liegt auch Babij Jar.

 Galina und Ingrid probieren und tauschen Kleider.

 Wir trinken die letzte Flasche Sekt, plaudern schläfrig und nachsichtig über allerlei, auch über das Dingsda, das Glück. Es ist nun einmal so, dass die Dinge des Lebens nicht sind, wie wir gern hätten, dass sie wären. Sicher gehört zum vollkommenen Glück, wenn es das denn geben sollte, der dauernde Wunsch nach Veränderung. Nichts muss und soll so bleiben wie es ist. Wozu sonst wären wir unterwegs.

DER KOMPONIST SERGEJ KOLMANOVSKIJ

    STELLT SEIN DEM GEDENKEN AN REICHSKRISTALLNACHT GEWIDMETES ORATORIUM „TRAUERGESÄNGE“ VOR. DIE TEXTE SIND VOM ÖSTERREICHISCHEN DICHTER PETER PAUL WIPLINGER.

    www.besucherzaehler-homepage.de