Henry-Martin Klemt Archiv

Henry-Martin Klemt wurde am 3. April 1960 in Berlin geboren, arbeitet als freier Text- und Bild-Journalist in Frankfurt (Oder), verheiratet und hat zwei Kinder. Er hat bisher sieben Gedichtbände veröffentlicht und an zahlreichen CDs mitgewirkt, die aus seiner Zusammenarbeit vor allem mit Frank Viehweg und der Gruppe Quijote heraus entstanden.

 

 

 

 

SIEBEN BERLINER LIEDER
 
PANKOWER LIED

                              Für Vera und Johannes
Das Gras im Park ist anders weich
und Papa sagt: Wir werden reich.
Uns wird eine Welt gehören,
die die Menschen nicht zerstören,
weil sie sich vertrauen,
und die Fahnen wehen,
die roten und die blauen.
 
Wenn nachts im gelben Bus ich dann
mit Mama oben sitzen kann,
größer als die Gaslaternen,
schon ganz nahe bei den Sternen,
funkeln Himmelsboten.
Nur die Fahnen schlafen,
die blauen und die roten.
 
Fast fünfzig Jahre her... Das war
Mein Eichhorn- und Kastanienjahr.
Farbe blättert von den Bänken.
Alle Zeit kannst du verschenken,
aber keine borgen.
Was soll aus uns werden? -
Ein Abend und ein Morgen.

                    Niederschönhausen, April 2013

WEISSENSEER LIED
 
Für Vera und Johannes
Meine Straße ist grau,
wie verlassen vom Glück,
und sie zahlt jeden Schritt,
jeden Tritt mir zurück,
schlägt wie wild auf mich ein
und ich kann mich nicht wehren.
Es ist leichter zu gehen
als wiederzukehren.
 
Unser Haus starrt mich an
aus den Fenstern, fast blind.
Als es fest mich umarmte,
war ich noch ein Kind.
War mein Schiff in der Nacht
auf den tosenden Meeren.
Es ist leichter zu gehen
als wiederzukehren.
 
Auch die Pappeln im Hof
sind schon lange gefällt.
Wenn sie rauschten am Morgen
erwachte die Welt
und ich wagte den Dschungel
ganz allein zu durchqueren.
Es ist leichter zu gehen
als wiederzukehren.
 
Meine Liebe war dreizehn
und zwölf erst war ich.
Kerstin rannte vom Tanz
schnell nach Hause zu sich
und vom Grund ihrer Furcht
stieg herauf mein Begehren.
Es ist leichter zu gehen
als wiederzukehren.
 
Das kaputte Motorrad
fraß längst schon der Rost.
Hat gewartet am Müllplatz
und ab ging die Post.
Die Verbote warn da
um mich nicht drum zu scheren.
Es ist leichter zu gehen
als wiederzukehren.
 
 
Wenn die Mutter mich rief
und das Spiel war vorbei,
warn da Küsse und Wärme
und nur selten Geschrei.
Manchmal ist mir, als könnte 
ich noch heut davon zehren.
Es leichter zu gehen
als wiederzukehren.
 
Manchmal ist mir, als müsste
ich noch heut davon zehren.
Es ist leichter zu gehen
als wiederzukehren.
                              März 2013
 
KÖPENICKER LIED
                    Für Johannes und Vera

Auf den Bänken an der Wuhle
haben wir herumgehangen
bis zum Abend, nach der Schule.
Wen wir ließen, der ist schnell vorbei gegangen.
 
Jeans mit Schlag und breite Kragen,
Absatzschuhe, lange Mecken,
Damit konnten wir uns wagen,
wenn sie kamen, an die schärfsten Schulhofschnecken.
 
Von verrauschten, alten Bändern
dröhnte, was wir grad versäumten,
in den großen, bunten Ländern
und wir schrien, wovon wir sonst nur heimlich träumten.
 
Aus dem Fenster drang kein Schimmer
bei geheimen Kellerfeten
und wir fanden dabei  immer
ein Verbot, das wir noch niemals übertreten.
 
Die orange Rundumleuchte,
ein paar Kisten, um zu sitzen,
und beim Tanzen nur die feuchte
Hitze, die wir spürten in den Fingerspitzen.
 
Küssten uns in Gartenlauben
und verschenkten nachts die Sterne,
nicht vom Himmel, nur von Hauben
fremder Autos aus unendlich weiter Ferne.
 
Durch den Wald auf Trampelpfaden
knatterten die Feuerstühle:
Nackt in einem Kiesloch baden.
Frei sein, ohne sich dabei allein zu fühlen.
 
Wenn die Streifenwagen kamen,
sind zu spät wir aufgesprungen.
Immer wieder unsre Namen
auf den Listen und das Blei auf unsren Zungen.
 
Ein paar Winter sind vergangen,
Sommer flogen mit den Staren
und zurück blieb ein Verlangen,
blieb zurück, als wir schon längst woanders waren.
                                                            Februar 2011
 
ZUGIGES LIED
               "Ich hatte sogar mal ein Kofferradio.
               Ein richtig großes, eignes.
               Aber das hamse mir dann auch geklaut."
                                                        Penner in Erkner, 1982
 
In den Zügen auf den Abstellgleisen
hab ich schlaflos manche Stunde zwischen Hund und Wolf verbracht.
Keiner musste jemand was beweisen,
und es roch nach kaltem Rauch dort unter unserm Eisendach.
 
In den Zügen auf den Abstellgleisen
war ein Weinen oft das Dunkel und ein Stöhnen war das Licht,
warn wir Pilger, ohne zu verreisen,
rissen uns vom Leib die Kleider, aus dem Leib die Seele nicht.
 
In den Zügen auf den Abstellgleisen
waren schmutzig und beschlagen alle Fenster in die Zeit.
Flaschen mussten bis zur Neige kreisen,
aber auszusteigen trauten wir uns nicht vor Müdigkeit.
 
In den Zügen auf den Abstellgleisen
warf uns jedes Türenschlagen tiefer in die Gegenwart,
saure Äpfel gab´s, statt Götterspeisen,
doch am Morgen die Signale zeigten plötzlich freie Fahrt.
 
Aus den Zügen auf den Abstellgleisen
sprangen wir in unsre Namen und es schien uns wie Betrug.
Manchmal wüsst ich gerne, wie sie heißen,
die wie ich am Bahndamm standen, Jahr für Jahr und Zug um Zug.
                                                                      Februar 2011
 
BALLADE VOM RIESENRAD
 
In der S-Bahn ein Jüngling mit Hütchen erzählt dir:
Karl Marx ist ganz nett, aber leider zu schlicht.
Er lacht und er hofft auf ein Loch in der Mauer.
Doch du lachst ihn aus, denn die Mauer bleibt dicht.
 
Aber die Freiheit ist das noch nicht.
Aber die Freiheit ist das noch nicht.
 
Das Riesenrad dreht sich ganz langsam nach oben.
Die Stadt nur geteilt durch ein Mädchengesicht.
Im Plänterwald spielt die Musik und wer Glück hat,
bleibt heut noch im Wald, wenn verloschen das Licht.
 
Aber die Freiheit ist das noch nicht.
Aber die Freiheit ist das noch nicht.
 
Du kannst diesen Jüngling mit Hütchen verraten,
und sagst vor dem Spiegel: Du tust deine Pflicht.
Oder du harkst deinen Garten in Treptow,
bis dir vor Eifer der Harkenstiel bricht.
 
Aber die Freiheit ist das noch nicht,
Aber die Freiheit ist das noch nicht.
 
Das Riesenrad wartet mit schwankenden Gondeln.
Die Stadt im November stöhnt unterm Gewicht
der deutschen Geschichte. Aus tausenden Mündern
quillt furchtlos der Nebel und nimmt dir die Sicht.
 
Aber die Freiheit ist das noch nicht.
Aber die Freiheit ist das noch nicht.
 
Karl Marx heißt die Straße. Der Kneiper mit Hütchen
spendiert dir ein Bierchen zum Linsengericht.
Du kaufst eine Rose und schenkst sie der Hure,
die dir fürs Begrüßungsgeld Liebe verspricht.
 
Aber die Freiheit ist das noch nicht.
Aber die Freiheit ist das noch nicht.
 
Vom Riesenrad bleibt nur ein Eisenkadaver.
Der Kneiper studiert einen Stasibericht.
Verlumpt und verlassen der Treptower Garten.
Was grünte im Schatten der Mauer, verblich.
 
Aber die Freiheit ist das noch nicht.
Aber die Freiheit... 
                                                  Januar 2011
 
LANDLÄUFIGES LIED
 
Weiter treib ich, weiter durch die Stadt,
im Karree und immer im Karree.
Ob sie noch ihr Fenster offen hat?
Ob ich sie heut nacht noch einmal seh?
Brennt kein Licht dort, ist sie nicht zu Haus.
Wenn es leuchtet, wer ist dann bei ihr?
Kenn mich nicht mehr. Kenn mich nicht mehr aus.
Stehe Stunden vor der Fahrstuhltür.
 
Weiter treib ich, weiter durch die Stadt.
im Karree und immer im Karree
Steh am Fluss. Der Fluss hat mich so satt.
Sind das ihre Spuren hier im Schnee?
Auf den Stufen saß sie, neben mir.
Es war Herbst. Bald bricht der Frühling an.
Jetzt erzähl ich, jetzt erzähl ich ihr
alles, was ich doch nicht sagen kann.
 
Weiter treib ich, weiter durch die Stadt,
im Karree und immer im Karree.
Jeden ihrer Kerle mach ich platt.
Ein Kaninchen frisst den ersten Klee.
Im Papierkorb kramt ein alter Mann,
findet ein paar Scheiben Brot darin,
die er mit den Tauben teilen kann,
wenn ich endlich fortgegangen bin.
 
Weiter treib ich, weiter durch die Stadt,
im Karree und immer im Karree.
Sommerregen macht die Straßen glatt,
eh die Nacht zurückkriecht in die Spree.
Wo am Kirchturm sich die Zeiger drehn,
rückwärts, vorwärts, keine Ahnung, wie,
werden alle Straßen zu Museen.
Niemand weiß es, doch hier wohnte sie.
 
Weiter treib ich, weiter durch die Stadt,
im Karree und immer im Karree.
Such den Ort, der mich verlassen hat,
sich versteckt und wartet, dass ich geh.
Eine rote, rohe Ziegelwand
sahn wir aus dem schmalen Fenster nur.
Dielen knarrten, ein Topf Geranien stand
auf dem Fensterbrett im Treppenflur.
 
Weiter treib ich, weiter durch die Stadt,
im Karree und immer im Karree.
Jahre fallen, Blatt um Blatt um Blatt,
voller Zeichen, die ich nicht versteh.
Und mein Lied hat keinen letzten Ton.
Irgendwo hier hat er sich verirrt.
Manchmal hör ich meine Mutter schon:
Komm nach Hause, wenn es dunkel wird. 
                                                  Juli 2012
 
ZIMMER LIED
 
Was liegt hinter all den Türen,
deren Klinken wir berühren?
Straßen, die einst unsre waren,
und der Glanz aus deinen Haaren?
Wie wir ohne Schmerz gestritten
und an unsrer Eintracht litten?
Wie aus jeglicher Gefahr
Hoffnung keimte Jahr für Jahr?
 
Warum such ich noch immer
nach dem dreizehnten Zimmer?
 
Sprangen über unsre Schatten,
bis wir nur noch einen hatten
an den leuchtenden Fontänen,
die sich nach dem Ursprung sehnen,
der Gestalt, der sie entsprangen.
Was vergangen, ist vergangen,
wird zum Tier, das ewig stirbt,
wenn es eingeschlossen wird.
 
Und so such ich  noch immer
nach dem dreizehnten Zimmer.
 
Unbewohnter Landschaft Tiefen,
eh wir miteinander schliefen,
Kinder, die wir großgezogen,
während fort die Freunde flogen.
Doch nur der wird nicht vergessen,
den das Feuer hat gefressen.
Die Entkommenen des Lichts
sind das Mögliche, sind nichts.
 
Ich nur suche noch immer
nach dem dreizehnten Zimmer.
 
Was liegt hinter all den Türen?
Ich weiß nicht, wohin sie führen,
ob nach draußen oder drinnen,
weg vom Sinn und zu den Sinnen.
Drück die Klinke, lös den Riegel,
blas den Staub von meinem Spiegel,
so als wär dort ein Vermächtnis.
Unfug, murmelt das Gedächtnis.
 
Doch ich suche noch immer
nach dem dreizehnten Zimmer.

                                                  Juli 2012

DER KOMPONIST SERGEJ KOLMANOVSKIJ

    STELLT SEIN DEM GEDENKEN AN REICHSKRISTALLNACHT GEWIDMETES ORATORIUM „TRAUERGESÄNGE“ VOR. DIE TEXTE SIND VOM ÖSTERREICHISCHEN DICHTER PETER PAUL WIPLINGER.

    www.besucherzaehler-homepage.de