Firusa Talibov Archiv

Firusa Talibov wurde in Aserbaidschan geboren, in der Stadt Giandscha, die auf der Handelsroute „Seidentrasse“ liegt Ärztin von Beruf, wie ihre Mutter und Geschwister; hat viele wissenschaftliche Publikationen in der Heimat und im Ausland. Seit 1997 lebt und arbeitet in Potsdam.  Veröffentlichung der Kurzgeschichten  (in deutscher und russischer Sprachen)  in zahlreichen russischen und deutsch-russischen Anthologien, in den Zeitungen und Zeitschriften. Ihr Credo ist nützlich für die Menschen zu sein. Sie ist eine leidenschaftliche Leserin, Fahrradfahrerin, Strickerin sowie Übersetzerin aus dem Russischen bzw. Aserbaidschanischem ins Deutsche. Sie ist glückliche Mutter einer Tochter und glückliche Oma von zwei Enkeln. Ihr Lieblingsautor ist Fasil Iskander.    
    
Das Haus und das Meer

                                                                     
 Gewidmet einer ungewöhnlichen 
                                                                     
                     Frau, dem mutigen Falterchen
                                                                      
                              Rita, zur Erinnerung an die 
                                                                      
                                        Begegnung am Meer.

Das Meer schaute in die Fenster hinein, Windstöße drohten, die einen Sturm ankündigten. Die endlos weite Wasserfläche umgab das Haus von allen Seiten. Nur wenn man sich über das Geländer des in den Himmel fliegenden Balkons beugte, konnte man unten einen Strandstreifen mit kleinen Figürchen sehen, die unbeweglich in ihren Strandkörben saßen. Das Donnern der Wellen flog dumpf lärmend bis zu den Fenstern hinauf, versetzte das Herz in Unruhe und Bestürzung.

Wer hat sich nur ausgedacht, dass die Betrachtung der Meeresweite und das Geräusch der Brandung eine beruhigende Wirkung ausüben, die Seele trösten könne? Wie kann denn eine so gewaltige Schöpfung, das große, unumfassbare Meer, Ruhe bringen, wo man doch an Schiffsunglücke, an Stürme, an große Einsamkeit denken muss?

Die Wirtin flatterte im Zimmer umher, erinnerte in ihrem roten japanischen Seidenkimono an ein Falterchen. Die weiten Ärmel, Flügelchen gleich, flogen schwerelos mit den zarten zum Himmel erhobenen Händen nach oben. Und für diesen einen Augenblick schien sich das Meer zu beruhigen, um den Flug des Falters nicht zu unterbrechen. Die Gäste, die der verwirrende Sturmwind her geweht hatte, hörten aufmerksam den seltsamen Worten zu, die der Wirtin von den Lippen tropften. Währendessen wuchs und tobte das Meer jedoch immer heftiger, die Menschen schmiegten sich ängstlich und sorgenvoll in die Sessel und ihre Blicke wanderten zwischen dem Falterchen im roten Kimono und den Fenstern, hinter denen die Gefahr lauerte, hin und her. 

Die Wirtin brachte ständig neue Gerichte auf den Tisch, die so exotisch waren wie sie selbst. Dabei erzählte sie von ihrem Freund. Es schien, als würden ihre anmutigen Bewegungen beim Laufen ein Märchen von Liebe und Zärtlichkeit erfinden, von Glück und Wohlstand, von irgendeinem Zauberland. Die Gäste aber, längst klug geworden durch Erfahrung, die sie auf selbst gegangenen Wegen gesammelt hatten, hörten ihr ungläubig zu und verfolgten aufmerksam die Gesten der Wirtin, wobei sie ein nervöses Zittern der Finger und einen leidvoll verzogenen Mund bemerkten.

Die Falterchen-Wirtin suchte den Blicken der Gäste auszuweichen, durchquerte mit leichten Schritten den Raum, verbeugte sich, einer Geisha gleich, graziös zum Fußboden hin, und erzählte mit gehauchter Stimme von ihrer Tochter, die talentiert und schön, aber genauso unsicher wie das Mutterfalterchen sei. Die Stimme der Wirtin bebte leise und wurde gelegentlich von trockenem Husten unterbrochen. Da erst war zu spüren, dass das Falterchen schon kurz vor dem Ende stand, dass seine Flügel brüchig geworden waren und bald, sehr bald schon ein Windstoß es durch das Fenster hinaustragen würde, wo es zugrunde ginge, wenn es in die Wellen stürzt.

Leidenstöne mischten sich wie Dissonanzen in ihre Rede, und man war plötzlich, inmitten des Luxus’, der die Wirtin umgab, traurig berührt. Es war offenbar, dass materielle Dinge für das Falterchen einen hohen Stellenwert besaßen - Spiegel, antike Schränke, kostbare Seidenstoffe. All das brauchte sie scheinbar um sich in dieser Welt sicherer zu fühlen, so wie ein Luftballon Sandsäcke als Ballast braucht, um nicht davon zu fliegen, sich nicht in der blauen Ferne zu verlieren.

Gäste und Wirtin verband bald ein Gefühl der Brüderlichkeit, wie es in Seenot geratene Matrosen zusammenschweißt. Hinter jedem von ihnen verbarg sich schließlich ein eigenes Meer, das nur auf eine Minute der Schwäche wartete, um alles mit einer großen Woge zuzu-decken und in den Abgrund zu schleudern…

Die Wirtin lud ihre Gäste ein, die Wohnung zu besichtigen und man folgte ihr. Das Falterchen im roten Kimono flog zielstrebig auf eine Tür zu und stieß sie auf.

Die Wände des winzigen Raumes hingen voller kleinformatiger Bilder mit immer dem gleichen Gesicht, einem seltsamen Gesicht, verzerrt, deformiert, entstellt von der Phantasie seines Schöpfers. Eine nicht fassbare schwere Kraft ging von diesen Bildern aus. Jedoch irgendwo unter der Decke lächelte ein zauberhaftes Mädchengesicht, erhellte alle mit ihrem strahlenden Lächeln. Und Merkwürdig - dieses lachende Gesicht an der Decke und die entstellten, verzerrten, deformierten Gesichtern auf den Porträts waren sich ähnlich. Die Verzerrungen waren talentiert gemacht und beseelt, tiefe Gefühle, kühle und traurige Gedanken verbargen sich in diesen Augen, im leidenden Zug um die Mundwinkel.

Die Wirtin hielt sich selbst mit den Armen umfangen, schaute besorgt in die Gesichter der Gäste. Alle schwiegen, erschüttert von der seltsamen Ausstrahlung, die von den Wänden des Raumes ausging. Eine der Frauen fuhr sich mit der Hand durchs Haar und flüsterte: „Sie stehen mir zu Berge!“

Die Wirtin nickte verstehend. Man sah ihrem Gesicht an, dass sie eine leidgeprüfte, vom Leben nicht verschonte Frau war. „Ja, ich weiß“, antwortete sie, „das geht vielen so. Ich hänge diese Bilder nicht in die Zimmer. Ich kann das nicht. Sie machen so schon Seltsames genug mit mir.“ Sie seufzte.

Nachdem die Gäste die Wohnung besichtigt hatten, traten sie auf den Balkon. Meer und Sturm brüllten hier in der Höhe und versuchten förmlich, die Gäste vom Balkon zu pusten. Dichter Nebel aus Wasserdunst, der aus den Schaumwellen aufstieg, bedeckte tief unten den Strand, aber die Menschen verließen ihn nicht, schauten in die Ferne, in der Hoffnung, das rettende Ufer zu erspähen. Aber Festland war nicht in Sicht.

Eine unbeschreiblich schwere Energiewelle, die von den Bildern in dem kleinen Zimmer ausging, bewegte das Meer immer stärker. Die Welle setzten das Haus in Bewegung und mit ihm die Gäste. Die Wirtin eilte ins Haus zurück und schloss die Tür zum Bilderzimmer. In diesem Augenblick war das Zaubermärchen vorbei. Es wurde langweilig, grau und alltäglich. Die Wirtin war kein Falterchen mehr. Und die Gäste waren übliche Frauen und Männer mit ihren Lebenserfahrungen, mit Siegen und bitteren Enttäuschungen.

Die Wirtin setzte sich und meinte: „Ich habe nicht alle früheren Bilder meiner Tochter aufgehoben, aber diese hier konnte ich nicht vernichten.“

 „Geben sie mir eines davon, das von der Mitte an der Wand“, bat unerwartet, für sich selbst überraschend, eine der Frauen.

Die Wirtin schüttelte bedauernd den Kopf. „Seien sie nicht böse, aber ich kann nicht. Das ist meine Bürde, meine Last. Es wäre schrecklich auch für sie. Sie würden es nicht ertragen.“

Das Haus schwamm in die hereinbrechende Dämmerung. Ein schwerer, lilafarbener Wind schlug an die verschlossene Balkontür. Die Gäste gingen. Die Wirtin stand traurig am Fenster, und ihr Blick verlor sich in der nebelhaften Weite des dunkel werdenden Wassers. Langsam und lautlos öffnete sich hinter ihrem Rücken die Tür des kleinen Zimmers.

Eine Meereswelle kroch auf das Fensterbrett zu… 

                                                  (In deutsche Sprache übertragen von Ingrid Richter)  

Die Münze auf dem Schnee oder die Philosophie des Falls

                                                                                          N. A. Epstein gewidmet

Boris Michajlowitsch war oft dienstlich unterwegs und nicht etwa in provinziellen Städtchen wie Nachapetowki oder Urjupinska. Nein, er fuhr nach Piter, Kiew oder Minsk. Diese Reisen verschafften ihm große Zufriedenheit.

Zu Hause gab es das übliche Alltagsleben, die solide Ehefrau mit einem Doktortitel

und dem richtigen fünften Paragraphen. Ihm gefiel es, auf Dienstreisen zu sein, in Hotels zu leben und sich mit zufälligen Weggefährten zu unterhalten. Mit seiner Frau hatte er schon über alles gesprochen, ihre Gedanken interessierten ihn nicht mehr wirklich. Die Kinder waren seit langem in alle Welt ausgeflogen.

Auf einer dieser Fahrten sprang er auf irgendeiner Zwischenstation aus dem Zug, um sich eine Zeitung zu kaufen. Es schneite. Boris Michaijlowitsch beeilte sich, das Kleingeld ins Fensterchen des Zeitungskiosks zu reichen und dabei fiel ein Zwanzigkopekenstück in den Schnee. In seinem Gedächtnis blitzte eine Erinnerung auf. Das Herz presste sich ihm zusammen als er an die Schule dachte und an die Schulbank, in der in der 8. Klasse das Mädchen mit dem blonden Zopf und der Schleife im Haar saß. Alles hätte anders kommen können. Alles. Und schuld war solch eine Zwanzigkopekenmünze.

Natürlich, gehörten sie zusammen. Was sonst? Zwei jüdische Kinder in einer Schule: sie fünfzehn Jahre alt, er sechzehn. Beide kamen aus intellektuellen Moskauer Familien.

Wie man so sagt, es war gottgewollt. Die Kinder gingen in eine Schule und sogar in eine Klasse, aber sie beachteten einander nicht besonders.  Sie hatten andere Sachen im Kopf.Erstens war der Stundenplan sehr voll. Zweitens erschien in der Klasse von Boris ein neuer Schüler und man musste sich erst an ihn gewöhnen und drittens hatte jeder von ihnen andere Vorlieben: er begeisterte sich für Sport, sie liebte Musik. Aber die Mütter dachten anders. Sie sorgten vor. Sie waren schon lange miteinander bekannt und beschlossen, dass sich nun auch ihre Kinder anfreunden sollten. Das heißt, sie – die Mütter – mussten die Kinder näher miteinander bekannt machen. Die Jahre vergehen und wer weiß wem die Kinder später auf ihrem Weg begegnen würden. Und hier – zwei jüdische Kinder in einer Schule und die Mütter sind einander sympathisch...

Eines schönen Tages überreichte die Mutter des jungen Mannes ihm zwei Karten für einen Festtag im Zoo. Dort sollte eine besondere Veranstaltung mit den Löwen stattfinden. Es war die Zeit, als es an allen Ecken mangelte und Theaterkarten oder irgendwelche Eintrittskarten für Veranstaltungen zu erhaschen war genau so schwer, wie eine Audienz beim Papst zu bekommen. Aber warum sollten Juden auch zum Papst wollen? Nun, die Mutter von Boris konnte von Glück sagen. Ein dankbarer Patient hatte ihr zwei Karten für den Zoo geschenkt und ihr gesagt, es seien an diesem Tag dort irgendwelche Festveranstaltungen. Borja hatte nichts dagegen in den Zoo zu fahren. Er mochte Tiere. Er sträubte sich auch nicht, das Mädchen mitzunehmen. Also würden sie hinfahren, sich die Tiere anzusehen.

Sie gingen rechtzeitig los.Es war ein frostiger Tag. Innotschka (so riefen sie unsere Heldin) hatte für diese Begegnung von der Mutter den Mantel mit dem kuscheligen roten Fuchs auf dem Kragen bekommen. Fast noch ein Kind, platzte sie jetzt beinahe vor Stolz und fühlte sich wie eine Erwachsene. Sie war eingeladen worden und sah aus wie eine richtige Dame. Sie mussten ans andere Ende der Stadt fahren. Boris zahlte natürlich für alles. Wie sollte es auch anders sein? Die Eltern hatten ihm Geld für den Weg und ein paar Pasteten gegeben. Sie waren jung und anspruchslos. Ein paar Münzen in der Tasche für die Straßenbahnbillets und die Pasteten, schon fühlten sie sich in festlicher Stimmung. Borja hatte wie ein Gentleman der Dame geholfen, sich in die Straßenbahn zu setzen, kaufte die Fahrscheine und hat vorsichtig das Kleingeld zusammengepresst, weil er fürchtete, es zu verlieren. Die Hand steckte im Fausthandschuh und konnte nur mit Mühe in der Tasche untergebracht werden. In der Straßenbahn war es leer und kalt. Wegen des Frostes blieben die Menschen in den Häusern. Sie aber waren jung, sie störte die Kälte nicht. Das Gefühl, erwachsen zu sein, gab dieser Fahrt etwas Besonderes. Unterwegs schwatzten sie über die Mitschüler, über die Lehrer und erzählten von ihren Vorlieben. Borja fand Interesse an Inna. Schon schaute er sie voller Neugier an und stellte sich vor, warum nicht? Warum sollte er ihr nicht den Hof machen und später,in etwa 5 Jahren,wenn die Mutter einverstanden ist, könnte sie seine Frau werden.

Die Straßenbahn polterte auf den Schienen. An den Haltestellen öffneten sich die Türen und die kalte Luft strömte ins Innere. Aber den Kindern war warm. Sie waren sogar ein wenig enttäuscht, als die Bahn am Zoo ankam. Borja hat Inna geholfen auszusteigen und sie zum Eingang geführt, aber der Zoo war geschlossen! Borja blickte erstaunt auf die geschlossene Tür. Er war ein beharrlicher Bursche und ging, den Diensteingang zu suchen, denn er hatte richtig überlegt, dass immer jemand im Zoo sein sollte, um die Tiere zu füttern und zu beschützen. Nach langer Suche gelang es Borja mit Inna, einen Angestellten zu finden. Der schaute die Karten an und sagte: „Kinder, ihr solltet nicht hier sein, sondern im Kulturpark des Bezirks. Dort wird diese Vorstellung gegeben.“ Und er nannte eine Adresse unweit des Hauses, in dem Boris wohnte.

Auf dem Weg in den Park hatten sie sich heiße, lebergefüllte Pasteten gekauft und mit Vergnügen aufgegessen. Boris erinnerte sich später oft an diese Pasteten, wenn er später – erwachsen geworden - von teueren Platten in den Restaurants speiste. Aber die Pasteten, die er bei Frost zusammen mit Innotschka aß, waren leckerer als der schön servierte schwarze Kaviar auf den Knusperbroten oder sogar die Koteletts nach Kiewer Art. Sie unterhielten sich über alles auf der Welt und in allem schienen sie einander unglaublich schön und interessant. Unterwegs zur Haltestelle berührten sich ihre Ärmel und ihre Wangen wurden von Röte überflutet und die Stimme versagte plötzlich verräterisch. Inna schritt auf dem Eis unsicher aus. Das war Grund genug für Boris, sie vor Glück zitternd zu stützen und er flehte zu Gott, dass es noch mehr solch rutschige Stellen geben möge.

Auf den Schienen donnerte die Straßenbahn heran und sie stiegen ein. Die Schaffnerin kam zu ihnen und Borja hat nach dem Geld in seiner Tasche gegriffen. Und, was für ein Schreck! Er beförderte nur noch drei Kopeken ans Licht. Borja kaufte einen Fahrschein, für den zweiten reichte das Geld nicht mehr. Die Schaffnerin, ein zänkisches Weib unbestimmbaren Alters, die sich in ihr ländliches Umschlagtuch gewickelt hatte, begann laut herum zu keifen.

„In der Straßenbahn will man wohl fahren, aber die Fahrkarten will man nicht zu kaufen! Und noch im Fuchs!“ sagte sie mit besonderer Bosheit und zeigte mit dem Finger auf den Mantelkragen des Mädchens. Inna fuhr in die Höhe und rannte zur Tür im Begriff, sofort auszusteigen. Borja holte sie jedoch ein, gab ihr die gekaufte Karte und sagte: „Fahr du mit der Straßenbahn, ich werde zu Fuß nach Haus kommen.“. Dann verließ er den Wagen. Inna hatte niedergeschlagen still geschwiegen und blieb auf ihrem Platz.. Die Straßenbahn fuhr an. Borja wartete, bis das Trittbrett des zweiten Wagens auf seiner Höhe war und sprang geschickt auf. Er hatte sich entschieden, schwarz zu fahren.

Als er nach einigen Haltestellen absprang, entdeckte er, dass es keine Inna mehr in der Straßenbahn gab. Er stand verlassen an der Haltestelle und wusste nicht , was er tun sollte. „Inna!“, hat er mehrmals hilflos gerufen. Der Frost wurde stärker und zwang ihn, nach Hause zu gehen.

Dort angekommen erzählte er seiner Mutter, dass Inna auf dem Heimweg spurlos verschwunden war. Beunruhigt nahm die Mutter Borja an die Hand und eilte mit ihm zu Innas Eltern. Dort erwartete sie ein idyllisches Bild. Der Tisch war gedeckt, auf dem Herd pfiff der Teekessel. Innas ganze Familie – angeführt von der Großmutter – hatte sich elegant gekleidet und sogar der Katze eine rote Schleife um den Hals gehängt. Es war offensichtlich, dass sie mit Ungeduld auf die jungen Leute warteten.

Die Nachricht, dass Inna verschwunden sei, versetzte allen einen Schock. Borja musste mehrmals erzählen, wie sich alles zugetragen hatte. Hinter seinem Rücken hörte er ein Flüstern und verstand deutlich das Wort „Schlamassel“. Die Ohren glühten ihm, aber es gab keinen Ausweg. Innas Mutter begann periodisch zu stöhnen und wiederholte händeringend: „Wie konntest du Innotschka nur verlieren?“

Im Kopf von Boris ging alles durcheinander: Innotschka, das Kleingeld, das geheimnisvoll aus der Tasche verschwunden war, der Frost, die kreischende Schaffnerin. Er stellte sich vor, wie die Schaffnerin Innotschka aus der fahrenden Bahn wirft und dabei schreit: „... und einen Fuchs trägst du noch!“ Dann schien ihm, dass Innotschka eine Münze in seiner Tasche ist und durch ein Loch im Futter schlüpft... Diese Vision war so stark, dass er sogar heimlich das Futter betastete.

Doch leider. Inna war nicht da. Es vergingen gut drei Stunden. Der Vater des Mädchens ging zur Miliz, um den Verlust der Tochter anzuzeigen. In den Straßen war es dunkel geworden. Borja entschied, dass es Zeit sei, sich das Leben zu nehmen, aber er wusste nicht wie. Er durchdachte einige Möglichkeiten, konnte aber keine davon ausführen: er hatte kein Gift, ein Strick war in Innas Haus nicht zu erreichen und aus dem Fenster springen konnte er auch nicht, da Inna im Erdgeschoss wohnte. Als die Hoffnung auf ihre Rückkehr fast erloschen war, klingelte es an der Tür. Alle sind zusammen losgerannt und unglaublicherweise gelang es ausgerechnet der halb gelähmten Großmutter als erste die Klinke zu fassen. In der geöffneten Tür stand Inna. Aber mein Gott, sie zitterte vor Kälte.

An Borja dachte natürlich niemand. Sie umarmten die ins Umschlagtuch eingehüllte Inna, wärmten klagend ihre Hände und versuchten gleichzeitig, ihr Tee einzuflößen.

Die Geschichte hatte sich folgendermaßen zugetragen. Inna war zum Beweis ihrer Solidarität ebenfalls aus der Bahn gestiegen, weil sie nicht wollte, dass Borja allein zu Fuß durch ganz Moskau ginge. Sie wusste nicht, dass Borja „schwarz“ fuhr und so stand sie mit dem Billet in der Hand an der Stadtgrenze und musste mehrere Stunden zu Fuß gehen.

Borja hatte sich schon vom Leben verabschiedet. Völlig verstört erhob er sich nun von seinem Stuhl, auf dem er gesessen hatte, als die Stunden nicht vergehen wollten, und ist vorsichtig zur Tür gegangen. Seine Mutter folgte ihm leise.

Sie gingen beide hinaus auf die Straße und als Borja unter einer Laterne die Handschuhe anzog, blitzte etwas auf und fiel in den Schnee. Er beugte sich hinunter und fand das Zwanzigkopekenstück. „Hier hast du dich also versteckt“, spottete er mit einem schiefen Lächeln.

Am nächsten Tag saßen die Kinder nebeneinander in der Schulbank, aber sie sahen einander nicht mehr an, obwohl Inna manchmal aus dem Augenwinkel nach Borja schielte. „Wie konnte er sich nur ohne Fahrschein in die Straßenbahn setzen. Er ist ein Gauner, mit dem man nichts zu tun haben darf.“, ging ihr durch den Kopf.

Boris wiederum hielt Inna keineswegs mehr für klug und schön. „Sie ist einfach eine Närrin“, dachte er, „sie hat keinen Verstand. Muss man denn aussteigen, wenn man einen Fahrschein in der Hand hält?“

Die Mutter von Boris ging nicht zur Arbeit. Ihr war schlecht. Der Kopf schmerzte und die Gedanken drehten sich schwer. „Also, dass die Eltern ihrer Tochter kein bisschen Kleingeld für einen Notfall mit auf den Weg gaben! Gut, dass es jetzt passiert ist. Jetzt weiß ich, dass sie dem Mädchen auch im weiteren Leben nicht helfen würden.“, beruhigte sie sich selbst.

Auch Innas Mutter kam wieder zu sich. Sie quälte der Gedanke, dass sie ihr Töchterchen dem Liederjan anvertraut hatte und es war gut, dass es jetzt so gekommen war und nicht später, nach der Hochzeit.

Und nur die Großmutter des Mädchens seufzte leise in ihrem Zimmer und schüttelte ab und zu den grauen Kopf, wenn sie sich an die vor Angst um Inna erstarrten Augen von Boris erinnerte. Aber niemand hat gefragt, woran sie denkt. Es scheint uns doch so langweilig zu sein, mit den Alten zu reden ...

                                                  (Übersetzung ins Deutsche Elke Hübener-Lipkau)

   
Die Brownsche Bewegung

Was ist der Sinn des Lebens? Wozu existiert das Weltall? Jeder sucht seine eigenen Antworten auf diese Fragen. Wenn er sie sich denn stellt. Manchmal gleicht das Leben der Brownschen Molekularbewegung. Es ist faszinierend, sie zu beobachten. Man kann sehr genau vorhersagen, wie sich die Masse im Ganzen bewegt. Aber es ist praktisch unmöglich, die Bewegung eines einzelnen Moleküls vorauszuahnen. Könnte es nicht sein, dass sich genau im Zusammentreffen zweier Moleküle oder auch zweier Menschen der Sinn des Lebens erschließt? Was steht hinter dem Schicksal des Menschen? Gesetzmäßigkeit oder der pure Zufall? Bestimmung oder Beliebigkeit?

Welcher Gesetzmäßigkeit war es beispielsweise zu verdanken, dass irgendwann einmal irgendwo im Osten eine Kaufmannsfamilie wohnte? Sie lebte vom Handel mit dem Iran. Der Kaufmann bezog von dort Spezereien, verschiedene seltene Kostbarkeiten, bereitete daraus orientalisches Gebäck und verkaufte dieses in seiner Konditorei. An den Freitagen betete er abends in der Moschee. Er wandte sein Gesicht gen Osten, Richtung Mekka und pries Allah für den friedlichen Verlauf der vergangenen Woche.

Zur selben Zeit, irgendwo weit im Norden, in dem für den Kaufmann unbekannten Russland, unterwies ein jüdischer Lehrer seine Kinder in Hebräisch und der Thora. Im Hause des Lehrers wurde Jiddisch gesprochen. Der Lehrer versammelte jeden Freitagabend seine Familie um den Tisch, um die Königin Sabbat zu begrüßen. Auch er wandte sein Gesicht gen Osten, Richtung Jerusalem und pries und dankte Adonai für diesen Sabbat und den Frieden in der Familie.

Im Schweiße ihres Angesichtes verdienten der Kaufmann und der Lehrer ihr Brot. Das Leben verlief gemächlich, wiederholte sich mit kleinen Abweichungen von Generation zu Generation. Die kleinen Abweichungen waren sich ebenfalls ähnlich. Dem Kaufmann und auch dem Lehrer wurden Kinder geboren. Ihre Erstgeborenen waren Söhne. Festlich wurde die Beschneidung begangen: die eine nach dem Gesetz der Scharia, die andere nach dem Gesetz der Thora.

Es zogen dunkle Zeiten herauf. Der Lehrer und seine Frau wurden während des Bürgerkrieges von Konterrevolutionären umgebracht. Der Kaufmann kam während des armenisch-aserbaidschanischen Krieges in seinem Hause um. Ihre Söhne blieben als Waisen zurück. Die Kinder wuchsen heran, die einen im Osten, die anderen im Norden.

Bald stellte sich heraus, dass der älteste Sohn des Lehrers alle Anlagen eines „jüdischen Gelehrten“ hatte. Das Lernen fiel ihm leicht. Er war ein wahrhaft helles Köpfchen. Der Beginn seiner Schulzeit fiel in die letzten Jahre der Zarenherrschaft. Er konnte das Gymnasium mit Auszeichnung abschließen und war außerdem der Lieblingsschüler des Popen geworden. Wenn jemand im Religionsunterricht eine Frage nicht beantworten konnte, dann richtete er diese an Sjamka, der freiwillig am Bibelstudium teilnahm. „Nun, Sjamka!“, begann dann der Pope, „erzähl diesen Dummköpfen doch mal, was unser Herr Gott am vierten Schöpfungstag erschuf!“ Sjamka konnte selbst die spitzfindigsten Fragen jedes Mal ohne Zögern beantworten. Danach küsste ihm der Pope auf den Scheitel und verkündete, dass er der einzig wahre orthodoxe Christ der gesamten Klasse sei.

Während des Bürgerkrieges heiratete Sjamka. Zu jener Zeit war er schon Jurist. Alle nannten ihn Salman. Er nahm sich ein jüdisches Mädchen zur Frau, das wie er das Gymnasium absolviert hatte. Schejne-Jente liebte ihren Mann heiß und innig. Ein Jahr vor Kriegsende wurde ihnen eine Tochter geboren. Salman kämpfte, zog von Stadt zu Stadt  und hielt den Sabbat heilig.

Im Osten wuchs der verwaiste Sohn des Kaufmanns auf. Nach dem Gesetz der Scharia wurde seine Mutter dem Bruder des verstorbenen Mannes zur Frau gegeben. Der Kaufmann liebte die Kinder seines Bruders wie seine eigenen, er selbst hatte keine Familie. Er erwies sich als sehr weitsichtig und klug: ziemlich bald hatte er begriffen, dass die Sowjetmacht ernst zu nehmen sei und man sich auf eine lange Dauer ihrer Existenz einstellen müsse. Er verstand, dass einzig das Wissen ein Kapital ist, das seinem ältesten Sohn von keiner Macht entrissen werden kann.

Die neue Macht hatte die Heimat des Kaufmanns zum Ort der Verbannung erwählt. Für Europäer war es schwer, dort zu leben: Malaria, Geschwüre, Lebensverhältnisse wie im Mittelalter. Der Kaufmann wurde auf die Familie eines Oberst der Zarenarmee aufmerksam, die von den Sowjets in seine Stadt verbannt worden war. Sie litt großen Hunger. Doch konnte sie von Glück reden, dass sie mit dem Leben davon gekommen war. Der Oberst selbst war umgekommen, in der Familie waren nur die Frauen zurückgeblieben – die Mutter und zwei Töchter. Die Mutter war eine Absolventin des Smolny-Instituts, einer höheren Schule für adlige Mädchen in Petersburg. Sie erzog ihre Töchter so, wie sie es von ihren vornehmen Gouvernanten gewohnt war. Diese Erziehung vertrug sich schlecht mit dem Leben des alten asiatischen Städtchens. Aber die Mutter konnte einfach nicht anders. In ihrem Hause las man Puschkin, sang man Romanzen. Und obwohl es oftmals nichts weiter zu essen gab als gekochte Kartoffeln, wurde der Tisch mit dem noch vollständigen Tafelsilber gedeckt, das ihnen wundersamer Weise in all den Kriegswirren erhalten geblieben war. Die Nachbarn schüttelten die Köpfe über die Lebensweise dieser rätselhaften Menschen. Insgeheim bewunderten sie jedoch auch deren unbeirrbare Traditionspflege.

Das Schicksal kam ein weiteres Mal zum Zuge. Dem Kaufmann, der in der Nachbarschaft der russischen Familie wohnte, kam eine geniale und weitsichtige Idee: er bot den russischen Frauen finanzielle Unterstützung für die Betreuung seines Sohnes. Nach der Schule sollten sie mit ihm Hausaufgaben machen und ihm beibringen, wie man sich russisch benimmt und russisch speist. In jenen Jahren wurde das in Asien nicht gefördert. Aber der Kaufmann hatte begriffen, dass die alten Zeiten vorüber waren und sich eine neue Ära ankündigte, in der es sein Schützling ohne dieses Wissen um die russische Lebensweise schwer haben würde.

Noch flocht sich der Kranz der Zufälle ohne jede Eile... Die zwanziger Jahre neigten sich dem Ende entgegen. Es kamen die Dreißiger. Der Sohn des Kaufmanns aus dem Osten wuchs heran. Die Tochter des Juden Salman wuchs heran. Beide studierten. Die Sowjetmacht festigte sich. Der Sohn des Kaufmanns betete nicht mehr in der Moschee, im Hause Salmans hatte man aufgehört, den Sabbat öffentlich zu begehen.

Menschenmassen wurden wie Sand vom Grund des stürmischen Meeres der Geschichte aufgewirbelt. Aus den Tiefen drang dumpfes Donnergrollen – Unheil kündigte sich an. Die Dorfbevölkerung verließ zu Tausenden ihre Häuser: die einen freiwillig, andere wurden in weit entlegene Gebiete zwangsumgesiedelt. Wie in einem aufgewühlten Meer mit jeder Welle neue Sandmassen angeschwemmt und fortgerissen werden, so gerieten immer mehr Menschen in den Strudel von Umsiedlung und Verbannung... Die Tragödie des Landes setzte sich aus den Tragödien der einzelnen Familien zusammen.

Die Familien wurden einander immer ähnlicher – ganz egal, wo sie wohnten – im Osten oder im Norden; ganz egal, welches ihre Muttersprache war oder zu welchem Gott sie beteten. Wenn sie überhaupt noch beteten. Ende der dreißiger Jahre begann die Kollektivierung im Lande, an der sich auch Salman beteiligen musste. Von seinen Fahrten kehrte er krank, niedergeschlagen, mit einem wunden Herzen zurück. Mit geballten Fäusten sagte er eines Nachts zu seiner Frau, so dass es die Kinder nicht hören konnten. „Wer sind denn die Kulaken? Es sind arbeitsame Leute!“

Der Mann seiner Schwester wurde zum Volksfeind erklärt und erschossen. Die Schwester selbst wurde als Familienangehörige eines Volksfeindes verhaftet. Mit Mühe und Not war es gelungen, ihre Kinder aus dem Kinderheim zurück zu bekommen.

In jenen Jahren wurden alle erwachsenen Männer in der Familie des Kaufmanns als Feinde des arbeitenden Volkes erschossen. Jede Familie litte ihren eigenen großen Schmerz. Aber die Zeit war noch nicht reif um zu verstehen, dass ein einziges Unglück sie alle vereinte.

Das Schicksal der Enkelin des Lehrers aus dem jüdischen Schtetl in der Ukraine wurde dem Schicksal des Kaufmannssohnes immer ähnlicher. Nein, sie wurden nicht sofort zueinander geführt. Vieles sollte noch geschehen. Noch hatten sich nicht alle Bestimmungen des Schicksals erfüllt. Die Enkelin des Lehrers, die schon kein Hebräisch mehr gelernt hatte, wandte sich der Heilkunde zu. Der Sohn des Kaufmanns, der von der Absolventin des Smolny-Instituts erzogen worden war, eignete sich die Grundlagen des Ingenieurwesens an. An den Abenden zitierte er seitenlang mit geschlossenen Augen seinen geliebten Puschkin. Die Kommilitonen staunten nicht schlecht, wenn dieser asiatisch aussehende junge Mann in reinstem Russisch passend zum jeweiligen Anlass Auszüge aus Puschkingedichten vortrug.

Das Schicksal flocht weiter seinen Kranz, brachte die beiden durch die Tragödien der Völker, durch die gemeinsame russische Sprache immer näher zueinander. Es schien nur noch ein letzter, großer Schritt zu fehlen – und die Schicksale dieser Kinder zweier Völker würden sich berühren, miteinander verschmelzen. Ja – das Leben tat diesen Schritt. Es kam das Jahr 1941... Der Krieg begann und beide gingen sie als Freiwillige an die Front. Das Schicksal brachte es sogar fertig, ihnen den gleichen Rang zu verleihen: Oberleutnant.

Sie waren vom Schicksal füreinander bestimmt und an die Front gebracht worden. Es war vollbracht. Sie begegneten einander und gehörten bald zusammen. Der Kranz war fertig geflochten, der Kreis hatte sich geschlossen.

Das Schicksal konnte nun eine Atempause einlegen. Es hatte sein Ziel erreicht. Diese zwei würden nicht mehr auseinander gehen.

Das Leben ging weiter, begann, neue Kränze zu flechten. Eine neue Woge der Geschichte sammelte sich. Ein beängstigendes, anschwellendes Donnergrollen wurde aus Afghanistan herübergetragen. Die Welt war nach wie vor taub und blind.

Die Zeit verging und im Osten wurde ein Mädchen geboren, irgendwo im Norden wuchs ein Junge heran. Was würde sie erwarten, diese beiden Sandkörnchen? Könnte es nicht sein, dass das Leben die Wellen der Geschichten aufschäumen lässt, damit eben diese zwei Menschen sich begegnen? Kann es nicht sein, dass das Schicksal nur zu diesem Zweck gewaltige Menschenmassen vermengt?

Wie atemberaubend schrecklich ist es doch, die Brownsche Bewegung zu beobachten...

                    (Übersetzung aus dem Russischen ins Deutsche von Mirjam Appel)
    
VERKAUFTE KINDHEIT

Es waren drei. Und wir Kinder waren auch zu dritt, zwei Schwestern und ein Bruder. So war es eben. Drei Teppiche und drei Kinder. Die Eltern wussten, jedes würde einmal einen Teppich erben. Aber wer würde welchen erben? Darüber hatte keiner nachgedacht.

Wir lebten zu fünft in einer kleinen Zweizimmerwohnung mit quietschenden Holzdielen und einem winzigen Balkon zur Straßenseite hin. Das Wasser wurde in Eimern geholt. Aber — es war das Haus der Kindheit, das Elternhaus, und deshalb war alles schön. Der größte Teppich hing im großen Zimmer an der Wand. Er war so lang, dass sein Ende bis zum Sofa herunterhing, es bedeckte und dann bis auf den Fußboden reichte. Das altertümliche geometrische Muster ging von einer rubinroten Farbe ins Smaragdgrüne über, und gelbe Punkte näherten sich dem Kirschrot des Fußbodens an. Der zweite Teppich lag im großen Zimmer auf dem Fußboden. Zwar war er kleiner, bedeckte jedoch den ganzen Boden und trug liebevoll gestrickte Bommeln aus Wolle.

Der dritte war flauschig, seidenweich und hing im Schlafzimmer über dem Bett.

Die Teppiche waren ein nicht weg zu denkender Teil der Kindheit. Sie waren wie die Luft und die Sonne, die man nicht bewusst wahrnimmt, wie ein kühlender Luftzug von den Bergen, die man aus unseren Fenstern sehen konnte. Vor Feiertagen wurden sie auf dem Balkon ausgeklopft. Zwischen den Feiertagen wurden sie mit einem gut ausgewaschenen trockenen Besen abgefegt. So verfuhr man mit den Teppichen seit Urväterzeiten, und wir achteten die Tradition, ohne zu wissen, dass es eine solche war. Im Sommer, in der heißesten Zeit, wurden sie gewaschen. Das war ein Feiertag. Die Teppiche wurden auf dem vorher sorgsam gewaschenen Asphalt ausgebreitet, ordentlich mit Wasser aus den Eimern begossen und mit einfacher Kernseife eingerieben. Waschpulver durfte dafür nicht genommen werden. Dann wurden die Teppiche mit dem Schrubber und viel Wasser so lange bearbeitet, bis das abfließende Wasser ganz klar war. Das machten die Erwachsenen, und wir Kinder durften helfen: Wir füllten die Wassereimer und trugen sie herbei, durften auch die Ränder der Teppiche waschen. Den größten war es erlaubt, ein wenig mit dem Schrubber zu arbeiten. Die alten Frauen, die dabei zusahen, stöhnten traurig und erzählten, dass die Teppiche in ihrer Jugendzeit im Fluss gewaschen wurden, im glasklaren Wasser, und dann wurden sie auf der Waschstelle ausgebreitet. Wir Kinder beneideten sie. Die Sonne, der Fluss, die Freiheit! Aber o weh, der Fluss, von dem die Alten sprachen, war ausgetrocknet. Das ist nun mal das Schicksal vieler kleiner Bergbäche, sie leben nicht lange. Und so kam es, dass man jetzt die Teppiche auf dem grauen städtischen Asphalt waschen und das Wasser mit Eimern herantragen musste. Früher waren sie am Wasserhahn auf dem Hof gefüllt worden. Nach etwa anderthalb Stunden floss kein Wasser mehr aus dem Teppich. Er wurde über einen Knüppel gelegt, zum Zaun getragen und dort in der Sonne zum Trocknen aufgehängt. Gegen Abend war er dann trocken. Nach dem Waschen leuchteten die Farben wie neu, sie funkelten geradezu und zogen die Blicke auf sich. Die Hände sehnten sich danach, die Oberfläche zu streicheln. Für die Sommerzeit wurden die Teppiche zusammengerollt, mit Nussblättern und Tabak bestreut, mit Kerosin eingerieben und in die Garderobe gebracht. Sie waren zwar groß, aber zusammengerollt nahmen sie erstaunlich wenig Platz ein. Es waren alte Datschenteppiche, Jajlag chaltschassy genannt. Einstmals brachte man diese Teppiche zu den Datschen in den Bergen. Dorthin gingen die Leute im Sommer, um der schwülen Hitze zu entgehen. Damals hatten alle solch altertümliche Teppiche. Es ist, als spürten meine Hände noch heute die seidenweiche Oberfläche des Teppichs.

Das war wunderbar, auf allen Vieren Einkriegen spielen, über den Teppich robben, und wenn man gefangen war, mit Händen und Füßen versuchen davon zu kommen und die ganze Zeit über den Ge­ruch des frischen Wassers, der Sonne und der Gräser, der vom Tep­pich ausging, wahrzunehmen.

Als erste verließ die Schwester das Haus. Alles ganz normal: das Institut, die Heirat, die Arbeit gemäß der Absolventenlenkung in einer anderen Stadt. Dann ging der Bruder den gleichen Weg, den die Schwester vor ihm gegangen war.

Die Teppiche sahen traurig aus in der sich leerenden Wohnung. Der Fußbodenteppich musste nun nicht mehrmals am Tage zurechtgerückt werden. Es war niemand mehr da, der ihn beim Spielen von seinem Platz schob. Schließlich fuhr auch ich weg. Die Eltern kamen abends spät nach Hause. Sie arbeiteten, und die Arbeit ersetzte ihnen die Kinder, ja das Leben überhaupt. Die Teppiche blieben nun sogar im Winter zusammengerollt in der Garderobe.

Nachdem wir das Elternhaus verlassen hatten, ist in den langen Jahren viel geschehen.

Meinetwegen zogen die Eltern in die Stadt, in der ich lebte. Meinetwegen tauchte sie ihre Wohnung, verließen ihr abgestammtes Nest und ihren Freundeskreis. Darüber haben sie niemals gesprochen. In der neuen, zum Glück sehr geräumigen Wohnung wurden die Teppiche ausgepackt. Sie wurden alle an die Wände gehängt. Und sie gehörten nun auch zum ganz gewöhnlichen Leben der nächsten, der Enkelgeneration. Die älteren Enkelkinder wussten, dass die Teppiche an ihre Eltern verteilt würden und machten sich Gedanken, wer wohl welchen Teppich bekommen würde. Wer von den Enkeln welchen Teppich bekommen würde, daran dachten sie nicht. Dazu waren sie noch zu klein, und die Zukunft war für sie noch ein fröhliches Märchen. Besitz interessierte niemanden in der Familie. Was Reichtum bedeutet, das stellte sich erst in der Perestroika heraus.

Lebensmittelkarten, Inflation, Umstürze, Krieg (obwohl er nie erklärt worden war, handelte es sich doch um einen Krieg mit allen Verlusten, der Angst und dem nächtlichen Schrecken). Das Gehalt reichte nicht mehr aus. Man kann sagen, es war eher ein symbolisches Gehalt (so wie unser ganzes damaliges Leben, vielleicht auchwie unser jetziges, wer weiß das schon?) Man musste ständig ans Überleben denken. Und da fiel mir ein... Wir hatten einmal ein Teppichmuseum besucht, und dort an der Wand hing ein Teppich, der genau so aussah wie unserer in der großen Stube. Vielleicht war auch der unsere eine museale Kostbarkeit? Und wir gingen ins Museum und suchten den Doppelgänger unseres Teppichs. Die Museumsangestellte, eine junge Frau, flüsterte uns zu, dass die frühere Leitung den Teppich „weggebracht" habe. Das heißt also, dass er wirklich wertvoll ist, dachte ich. Die Geschichte der Suche nach einem potenziellen Käufer wäre eine eigene Erzählung wert.

Der erste Teppichhändler nannte uns einen Preis, der, wie sich später herausstellte, der höchste war. Alle anderen rechneten mit unserer Unkenntnis des Marktes und boten uns Summen, die fünf—bis sechsmal niedriger waren. Immer wieder breiteten wir unsere „Kindheit" zu Füßen eines möglichen Käufers aus. Deren Augen leuchteten jedes Mal gierig auf, ihre Mimik hingegen sollte uns ihre vollkommene Gleichgültigkeit gegenüber dem zum Verkauf stehenden „Plunder" ausdrücken. Die möglichen Käufer waren verschiedener Nationalität. Es waren Iraner und Aserbaidschaner, Türken und Juden. Zwei Juden, Vater und Sohn, versuchten verwandtschaftliche Gefühle ins Spiel zu bringen: „Wir geben Ihnen für beide Teppiche (Wir boten nur zwei Teppiche an, den dritten hatten wir Gott sei Dank schon vordem unserer Schwester geschickt, die in einer anderen Stadt - jetzt ist das sogar ein anderes Land - lebte.) 400 Dollar. Und das auch nur, weil wir ja gewissermaßen unter uns sind. Soviel sind die Teppiche gar nicht wert."" Dazu muss man sagen, dass uns niemand so wenig angeboten hat. Nun kam wieder der erste Käufer, ein Aserbaidschaner aus dem Iran. Mutter, das Familienoberhaupt, verfolgte schweigend und streng, wie mein Bruder und ich die Teppiche ausbreiteten. Und nun wurde endgültig die Kaufsumme genannt. Mutter aber sagte ganz fest: „Nein!" Alle erstarrten. Der Käufer, ein Mann von etwa 35 Jahren und mit grauem Haar, sah sie aufmerksam an. Mutter nannte entschlossen eine Summe, die um 100 Dollar über der gebotenen lag. Ich lächelte. Es war ein Lachen unter Tränen. Ich dachte an Schura Balaganow und jene Summe, die er Bender nannte und die Voraussetzung für sein vollkommenes Glück war. Es war doch so, dass wir in der Zeit, als wir uns mit dem Verkauf der Teppiche befassten, schon selbst ein wenig zu Spezialisten geworden waren und wussten, dass sie zehnmal mehr wert waren als der Betrag, für den wir sie jetzt weggaben. Aber leider waren sie soviel nur im Ausland wert, hinter der Grenze, die für uns ein „eiserner Vorhang" war. Der Iraner erklärte ohne zu zögern sein Einverständnis, und der Handel war abgeschlossen. Sein Helfer rollte gekonnt die Teppiche zusammen und trug sie zum Auto.

Das Haus schien mir nun verwaist. Ich hatte das gleiche Gefühl wie nach dem Tode meines Vaters. Wir waren alle verwaist, denn der Mensch, dem man die Kindheit nimmt, ist doch so etwas wie eine Waise. Die Welt verdunkelte sich und verlor jeden Sinn. Das Geld, das auf dem Tisch lag, mochte ich gar nicht ansehen. „Was wir besitzen, das bewahren wir nicht", ging mir ständig im Kopf herum.

Aber man musste leben, zur Arbeit gehen, Essen vorbereiten, waschen, aufräumen, sich um die Kinder kümmern. Nein, wir haben das Geld nicht für Lebensmittel ausgegeben. Wir lasen gern und wussten aus den Büchern, dass Immobilien die beste Kapitalanlage sind. Also kauften wir eine Einzimmerwohnung in einem ehemaligen Kaufmannshaus.

Danach rechnete ich aus, wie viel Geld wir ausgegeben hatten und wie hoch die Einkünfte waren. Das Ergebnis war jedes Mal ein anderes, aber es wir immer wenig erfreulich.

Oft nehme ich eine vorwurfsvolle Stimme in mir war. Wieder und wieder fragt sie mich, sie weckt mich in der Nacht auf: „Warum hast du sie erkauft? Warum hast du dein Gedächtnis verkauft?"

Ich weiß keine Antwort. Ich versuche, mich vor mir selbst zu rechtfertigen. Dann verstumme ich, neige schuldbewusst den Kopf: „Ja, ich habe es verkauft.., oder gar verraten?"


 

DER KOMPONIST SERGEJ KOLMANOVSKIJ

    STELLT SEIN DEM GEDENKEN AN REICHSKRISTALLNACHT GEWIDMETES ORATORIUM „TRAUERGESÄNGE“ VOR. DIE TEXTE SIND VOM ÖSTERREICHISCHEN DICHTER PETER PAUL WIPLINGER.

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