Erhard Scherner Archiv

Erhard Scherner
1929 in Berlin geboren. Schriftsteller, Lyriker, Nachdichter, Germanist. Lebt in Schöneiche bei Berlin. Langjährige Tätigkeit in China erschloß ihm den Zugang zu Kultur und Lebensweise des Ostens („Geschichte vom LaoWai“, Berlin, 1997).

Jüngste Veröffentlichung – „Entwurf eines Spiegelbildes“. Gedichte Edition D.B. – Erfurt, 2004.

 
            

 

Vater Willfahrt
 
Das ist Vater Willfahrt,
Landmaschinenbauer
und Jäger,
schütter schon das Haar.
Aus Böhmen
hat er dazumal Frau und Sohn,
auch achtundneunzig Lieder
mitgebracht.
Seine Bienen haben sich daran gewöhnt.
 
In der Dämmerung
das Gespräch mit Reh und Waschbär
führt er allein. Die zwei
Hunde, beisitzend,
schweigen.
Erst wenn es heimgeht,
mitternachts,
sagen sie ihm deutlich, was sie
von seiner Jagd halten.
Vater Willfahrt ruft sie lautstark
zur Ordnung.
Die Hunde haben sich daran gewöhnt.
 
Vater Willfahrt, seinen Landmaschinen nachreisend
ins Böhmische, zur Puszta und zum Schipkapaß,
zur Save und zur Wolga hin,
kennt sich in Grenzen aus.
Gartenzäune mag er nicht.
In hellen Frühlingsnächten, gegen drei,
will man ihn gesehen haben...
Vater Willfahrt steigt in die dürren Gärten,
nimmt nicht - bringt:
steckt Weidenruten in die Erde oder Haseltrieb.
Der Bienen wegen? Das ist die Wahrheit
nur halb.
Es grünt,
wo Vater Willfahrt geht.
Unglaublich, murmeln die Leute.
 
Für ja wen denn sonst
 
Das zählt zu den Wunderdingen:
Manchmal hör ich ein Singen
hinter den Bäumen,
fremdländisch ein Lied
so heimelig nah.
In meinen krausen Träumen
bist du fort und bist immer da.
Wie gern schrieb ich dir ein liebes Gedicht.
 
Krieg ist. Da klingt es nicht.
 
Für Erwin Strittmatter
 
Ihr meine Finken
in der Futterschüssel
äugt herüber zu mir
der ich am Tisch hock
und schreib.
 
Zwischen uns
kein Gitter
ein Meridian
vielleicht.
 
Steh ich nun auf
leg fort das Blatt
oder sitze
ein Weilchen noch
äugend
in die stiebende
Schüssel.
 
Und frage
wer hier seine Wildheit
fast vergisst. 
                           1981
 
Ich rühre Teer
                                     Für Christa
Als es der Krieg in die Krallen
nahm, beinah achtlos im Vorübergehn,
ist es geborsten, ist nicht gefallen
das Haus. Es bleibe uns stehn.
 
Ich rühre Teer, das Haus zu heilen,
meine schrundige, rissige Haut.
Ich grabe bis zum Grund. Bisweilen
gesteh ich: Es ist auf Sand gebaut.
 
Ich seh nicht schwarz, streiche Teer. Eine Rinde
umschließe das Grundwerk. Nun Regen rinnt.
Der Schornstein zittert in der Gunst der Winde.
Wenn Sturm kommt, wend ich mich, weiß nicht wohin.
                                                                                1983
 
Advent mit Moritz

(geboren am siebten Dezember)
Als du in diese Welt getreten,
waren wir grad beim Singen und Beten.
 
Nur deine Mutter hat gewusst,
dass du jetzt kommen musst.
 
Wo bist du hin geraten:
Gaukler erwarten dich und Soldaten.
 
Der Atem stockt, doch wir fällen den Baum.
Machet die Tore weit! – ein schöner Traum.
 
Denn wir machen unsere Türen zu
vor den Hungernden. Aber du,
 
Moritz – laß dich grüßen und küssen.
Du wirst das alles ändern müssen.
                                                   1996
 
Immer ist es das Volk                  
                                 NAROD
                          EL PUEBLO
                               RENMIN
Das lacht und weint und frisst
und hungert
 
alles baut - und nicht bewohnt
alles sät - nicht erntet
 
hofft und glaubt
endlich zweifelt
 
alles hinschmeißt
alles neu macht
 
alles falsch macht
alles bestreitet
für alles büßt
 
und schlafen geht
und Kinder macht
und wieder hofft
 
Selbstlos ist es und
gierig
weise zuletzt
nicht mehr zu gebrauchen 
                     NAROD
              EL PUEBLO
                   RENMIN
    Immer DAS VOLK
                                         So dachte ich Ostern 1998
                                         in der Stadt Dazu (Großer Fuß)

 
Von den Liedern das schönste
 

Von den Liedern
das schönste:
das meine Liebste freut.
 
Von den Städten
die wichtige:
wo meine Liebste wohnt.
 
Von den Zügen
der langsamste:
der mich zur Liebsten trägt.
 
Tageslauf
 
Im Frührot springt die Amsel
durch die Hecken –
Ich will dich wecken!
 
Mittags locken im Busch
die Meisen –
Was wolln wir speisen?
 
Wenn in der Nacht
die Wildgänse schrein,
möchte ich bei dir sein.
 
***
Ach, wir lernen spät das Laufen,
stolpern taumelnd in die Messer.
Regen schüttet aus den Traufen.
Sind wir Kämpfer? Träumer! Esser!
Ach, wir lernen spät das Laufen.
 
Ach, wir lernen spät das Fliegen -
übermächtig ist die Erde.
Mussten schreien. Doch wir schwiegen,
wünschend, dass sie anders werde.
Ach, wir lernen spät das Fliegen.
 
Ach, wir lernen spät das Lieben.
Gutsein, Liebste, das sind Siege.
Was ich bin, bleibt dir verschrieben.
Dich zu sehn - ich laufe, fliege.
Ach, wir lernen spät das Lieben.
 
***
Ob die Liebe ganz zu Ende                                                                      
war gedacht und nur noch die Treue zählt –
hast du alles recht gemacht
als du mich erwählt.
 
Lege deine müden Hände
leis um meinen Leib.
Denk nicht „Geh!“, sag auch nicht „Bleibe!“
Bleib
 
mir die Liebste in Gefahr,
mir die Nahe fern.
Unsre Liebe Jahr um Jahr –
tags ein Irrlicht, nachts ein Stern.
 

Die Juden-Zigarre

Vom Vater, denk’ ich mal, ist nur Gewöhnliches zu erzählen. Er war klein, unauffällig, mit rundem freundlichem, manchmal auch erschrockenem Gesicht. Ein Oberschlesier, also Katholik, aber nicht besonders katholisch, jedenfalls weniger als Mutter. Sie, immerhin, strich mit dem Messer dreimal ein Kreuz über den Laib Brot, ehe sie ihn anschnitt. Später, im zweiten Krieg, ließ sie davon ab.

Auf der Suche nach Arbeit hatte es die Eltern, Vater vornan, aus Leobschütz nach Berlin verschlagen, gegen Ende der zwanziger Jahre. Leobschütz heißt heute Glubczyce und liegt in Polen. Ein Städtchen, nicht abgelegen genug, dass es der letzte Krieg verschont hätte. Anders als manches Gehöft, manche Straßenzeile, hat die ehrwürdige Stadtmauer überdauert, der beachtliche Rest. Die Kirchen sind neu erstanden und die Brauerei, vormals Weberbauer gehörig. Guttfreunds Kurzwaren-Großhandlung am Ring gibt es längst nicht mehr. Geisterte viele Jahre als jüdisches Kaufhaus durch das häusliche Gespräch. Weil: Mutter war Lehrmädchen bei Guttfreund, in jenem Weltkrieg, den niemand  bezifferte, weil eine Wiederholung nicht vorstellbar schien. War anstellig und konnte gut rechnen, eine hübsche Dunkelblonde mit großen Augen, dreizehn Jahre wohlgelitten von Brotgeber und Kunden. Aber was half ihr ein gutes Zeugnis in der Tasche, wenn es für sie in der fernen Hauptstadt, dem Liebsten hinterher gereist, keine Arbeit gab. Dann die drei Kinder, geboren im Abstand je zweier Jahre, ich das mittlere. Musste nun alles Vater packen: Arbeit suchen, Arbeit suchen und, wenn er sie gefunden hatte, auch behalten. Bei Kürschnergesellen schwierig – sie leben mit der Saison, dann darben sie. Schlimm, wenn die Frühlingssonne heraufzieht und die Leute keine Pelze mehr tragen, wenn es keinen Mantel zu füttern gibt, kein Kaninchenfell auf einen Kragen muß. Lausige Zeiten in einer ziemlich lausigen Gegend, Lothringer Straße. Schwerer hatten es die Juden nebenan im Scheunenviertel, die wie Vater und Mutter hoffnungsvoll aus dem Osten zugereist waren. Auch bei uns im Hinterhaus gab es die eine oder andere jüdische Familie. Blieben mal kürzer, mal länger. Berlin war ein schwieriges Tor in die reichere Welt.

Umsichtig suchten die Eltern, uns Not nicht spüren zu lassen. War Leberwurst auf die Schrippe nicht zu haben, wurde Marmelade auf die Stulle gekratzt oder Zucker drauf gestreut. Krämer und Bäcker schrieben an, bis Vater sein Stempelgeld ausgezahlt bekam. Der wusste sich zu bescheiden. Zahlte unsere Schulden, kaufte eine Schachtel Zigaretten. Ging mit Mutter Skat spielen um Zehntel Pfennige zu einer befreundeten Familie am Wasserturm.

Die Feste kamen wie sie fielen. Gab es keinen Kuchen, gab es Kuchenkrümel, für einen Sechser eine ganze Tüte voll. Wenn im Frühling das Passahfest heran war, reichte Frau Urtel uns Kindern Matze aus, ungesäuertes Fladenbrot. Daran hatten die neuen Volksbeglücker nichts ändern können, jedenfalls in Lothringer nicht. Matze war köstlich. Und es war was zu essen.

Nur das Ungewöhnliche brachte alles durcheinander. Vaters Anstellung am Flughafen Tempelhof, Arbeit fürs ganze Jahr. Er durfte Fliegermonturen passgerecht machen, einen Pelzkragen reparieren, ehe der mit dem Piloten in die Lüfte abhob. Oben ist es immer kalt. Hat ihm einmal ein Flugkapitän, dem Vater fix geholfen hatte, als Dank eine Flasche „Lacrima Christi“ mitgebracht, Wein vom Fuße des Vesuvs. Vater war nicht gewohnt, Wein zu trinken, und wir wussten auch niemanden, dem wir die Flasche hätten schenken können. Fiel uns schließlich mein Klassenlehrer ein, Lehrer Feßler, nur so, ich hatte nichts ausgefressen und versetzungsgefährdet war ich auch nicht. Lehrer Feßler lehnte erst ab, dankte schließlich, als er wohl spürte, dass wir keinen Ausweg wussten, und übersetzte den Namen des Weines: „Christustränen“. Das berührte mich doch, den frischgebackenen Ministranten von der Herz-Jesu-Kirche am Teutoburger Platz.

Für eine Zigarre aber, die Vater gelegentlich nach getaner Arbeit erhielt, hatte er Verwendung: die hob er sich für den Sonntagmorgen auf. Lächelte, löste genüsslich die Bauchbinde, ja, eine gute Zigarre, schnitt mit scharfem Messerchen die Spitze an, griff feierlich zum Streichholz, zog Luft, suchte mit rundem Mund einen Kreis aus Rauch über den Küchentisch zu zaubern, verschluckte sich regelmäßig, hüstelte, immer noch glücklich. Welch ein Duft, traulicher als Weihrauch. In solchem Augenblick bewunderte ich den Vater, dessen Pelzkragen auf einer Pilotenmontur bis nach Rom durch die Lüfte sauste, vielleicht in dieser Sonntagmorgenstunde.    

Am 9. November 1938 – ich war neun und überhaupt schlief ich noch – tobten sich in unserem Kietz Eiferer an den jüdischen Läden aus. Fanatiker in Zivil probten Volkszorn, zeitig am Morgen. Der Horst-Wessel-Sturm? Das aber weiß ich genau: Mein ganzer Schulweg, vom Bäcker in der Lothringer, die lange Schönhauser hinauf bis zur Katholischen Volksschule in der Oderberger – wie viele Läden, die Fenster zerschlagen, Auslagen verwüstet, beschmiert. Allenthalben, und mein Schulweg war lang: „Kauft nicht beim Juden!“ Auch: „Jude verrecke!“ Das Klirren der Scherben beim Kehren höre ich noch immer.

         An einem Laden mit Tabakwaren räumten ein paar Leute geschäftig und unaufgeregt einfach ab. Im Schwung hüpfte eine Zigarre aus ihrer Holzschachtel und rollte mir vor die Füße. Die braucht keiner mehr, dachte ich, und griff zu. Vater soll sich freuen.

         Als ich dem Vater mein Geschenk überbrachte, wurde er traurig. Böse sein war nicht seine Sache. Aber er verlangte, die Zigarre sofort zurück zu tragen. Wie ungerecht, dachte ich, dem Heulen nahe. Aber: deutsche Jungen weinen nicht! „Wohin denn?“ rief ich. – „Dorthin, wo du sie hergeholt hast!“

Das war ein schlimmer Gang. Es dunkelte schon. Die wenigen Passanten starrten, schien es mir, auf die Juden-Zigarre in meiner klammen Hand. Ich schob sie hastig durch den Bretterverschlag, der nun die Scheibe des Tabakladens ersetzte. Dass ich mich schämte, brauchte es noch sieben Jahr.

 

DER KOMPONIST SERGEJ KOLMANOVSKIJ

    STELLT SEIN DEM GEDENKEN AN REICHSKRISTALLNACHT GEWIDMETES ORATORIUM „TRAUERGESÄNGE“ VOR. DIE TEXTE SIND VOM ÖSTERREICHISCHEN DICHTER PETER PAUL WIPLINGER.

    www.besucherzaehler-homepage.de