Aleksander Elbert
Aleksander Elbert:
«Geboren bin ich 1937 in Moskau in einer Schneiderfamilie. Ich ging zur Schule, lernte Geige, aber schließlich wurde ich Chemiker. Ich heiratete, kam zur Vernunft, bekam zwei Töchter (beide leben nun in Deutschland). Wahrscheinlich war ich ein guter Wissenschaftler: viele, zu viele Publikationen und Patente, von denen einige verkauft wurden und sogar von praktischem Nutzen waren. Seit 1991 lebte ich in Jerusalem. Nach dem Tod meiner Frau im Jahr 2009 habe ich für mich selbst unerwartet angefangen, zu schreiben. Am Anfang kurze Märchen, die sich als Fabeln herausstellten. Dann Geschichtchen, Geschichten, Erzählungen und sogar einen Roman. Mich hat das sehr gewundert, weil ich früher nur Musik geschrieben hatte. Seit Januar 2013 lebe ich in Potsdam. Etwas mehr kann man aus meinen Geschichten über mich erfahren. Und zwar Dinge, die ich früher selbst nicht wusste.»
Zwei Krähen
Einst flog eine Krähe gen Süden, eine andere flog ihr entgegen. Auf halber Strecke mussten die beiden sich ausruhen und begegneten sich auf einem großen Baum inmitten eines Waldes, aber unweit der Stadt. Sie begrüßten einander und kamen ins Gespräch.
Die Nordkrähe, die Richtung Süden flog, fragte mit einem gewissen Erstaunen, ja, sogar einem Vorwurf in der Stimme:
- Meine Verehrte, wohin bewegst du dich? Das ist doch gegen all unsere Gewohnheiten und Regeln! Du, meine Liebe, irrst dich: es ist Zeit, nach Süden zu fliegen, dort einen guten Platz zu finden, sich auszuruhen, zu genesen und Kräfte zu sammeln, um danach….
-Aber ich bin weder erschöpft noch krank, - unterbrach sie die Südkrähe, die gen Norden flog. - Ich bin jung und voller Energie. Ich werde nach Norden fliegen, einen guten Platz finden, einen Mann finden, ein Nest bauen und …
- Was redest du da, Verehrteste, so etwas gibt es gar nicht! Du bist noch zu jung und unerfahren - vielleicht ungebildet? - schüttelte die Nordkrähe ihren Kopf und schnalzte mit der Zunge. - Hat man so etwas je gehört, dass eine Krähe von sich aus und dann noch zur falschen Zeit sich selbst einen Mann sucht und ein Nest baut?! An uns Frauen ist es, zu leben, wie es unsere Vorfahren gelebt haben, unsere Bräuche zu ehren und dem Mann zu gehorchen! Und wenn…
Aber die Südkrähe hörte sie schon nicht mehr. Sie flog nach Norden und war in ihre eigenen Gedanken versunken. Jedoch nach einiger Zeit wurde ihr seltsam zumute. Was, wenn…. Aber ja, natürlich .,… Kann nicht sein… Obwohl …. Sie schaute umher und sah, dass alle Krähen ihr entgegen flogen, gen Süden.
Sie kam ins Grübeln und fand eine ruhige Stelle auf dem Dach eines einsamen Häuschens inmitten eines großen Feldes. Sie kam ins Zweifeln.
Und am Morgen wandte auch sie sich um und flog gen Süden. Wie alle Krähen.
Nach einiger Zeit sah sie eine einsame alte Krähe gen Norden fliegen und hörte sie murmeln, so laut, dass es meilenweit zu hören war:
- Mein ganzes Leben mache ich alles, “wie es sein muss”, und warum? Mein ganzes Leben gucke ich auf die anderen, und wen interessiert das?
Zweifel ist die Triebkraft des Fortschritts.
Jedoch nicht immer!
Das Fest
Als der Krieg anbrach, war ich vier Jahre alt. Papa ging an die Front, und ich sah ihn nie wieder.
Mama brachte mich mit Oma und Opa zusammen weit fort, nach Taschkent. Dort wohnte schon Opas Cousin, er hieß Philipp Philippytsch. Es war genau so klein wie Opa, mit einem genau so glänzend rasierten Kopf, nur, dass Opa rundlich mit einem großen Bauch war und Philipp Philippytsch dünn.
Wir wohnten in einem großen hölzernen Haus in der Strelkowaja-Straße. Mir schien damals, dass die Straße sehr breit sei. An der Straße entlang zogen sich Bewässerungsgräben, an denen Pappeln wuchsen. Manchmal erzähle ich, dass wir Kinder in diesen Bewässerungsgräben in Schüsseln und Zinkwannen wie in Booten fuhren und dass ich einmal kenterte und meine Zinkwanne über mich fiel, so dass man mich in letzter Sekunde retten konnte. Aber das sind alles Erfindungen, daran erinnere ich mich nicht sicher.
Hinter dem Haus war ein Garten, in dem riesige Apfelbäume wuchsen, so hoch, dass man die Äpfel nur mit einem langen Stock erreichen konnte.
Philipp Philippytsch hatte einen jungen Schäferhund namens Mussik. Aus irgendeinem Grund hatte ich große Angst vor ihm.
Einmal, als ich im Garten spielte, riss sich Mussik von der Kette los und lief auf mich zu. Ich erschrak furchtbar, schrie und lief vor ihm fort. An all das erinnere ich mich noch sehr gut, wahrscheinlich, weil der Hund mich gar nicht beachtete. Er überholte mich, schnappte sich eine kleine Schildkröte, die ich von der Straße mitgebracht hatte, und spielte mit ihr.
Einmal, Ende 1942 - nach Moskauer Verhältnissen war es Spätherbst, aber in Taschkent meinte man, es sei bereits Winter - sprach sich meine Oma mit der Nachbarin ab, zusammen fortzufahren, vermutlich auf einen Markt. Oma zog mich an und sagte, dass ich vor dem Gartentor auf sie warten sollte. Ich trat hinter das Tor, wo ich auf den dicken Nachbarjungen Pawlik traf, der in Filzstiefeln mit Galoschen, einem warmen Mantel mit vorn zugebundenem breitem grauen Schal und einer Pelzmütze vermummt war. Beide hatten wir keine Lust, auf den Markt zu fahren, aber weder er noch ich durften allein zu Hause bleiben, weil unsere Mamas und Opas, auch meine Tante Lisa, die Schwester meines Papas, die mit uns wohnte, arbeiteten.
- Hallo, Jungs! - Eine junge hübsche Frau kam auf uns zu, in der einen Hand eine große Tasche, in der anderen ein Häuflein Sonnenblumenkerne.
- Wollt Ihr Sonnenblumenkerne?
Sonnenblumenkerne hatten wir natürlich gern. Die Frau fragte uns aus: Name, Alter, mit wem wir wohnten und ob wir einen Kindergarten besuchten.
In einen Kindergarten gingen weder Pawlik noch ich. Warum Pawlik nicht, weiß ich nicht mehr; ich ging nicht hin, weil ich nicht wollte. Man hatte mich zwei Mal in den Kindergarten gebracht, aber beide Male war ich von dort abgehauen. Das erste Mal hatte ich mich verlaufen und man hatte nach mir gesucht, aber das zweite Mal war ich selbst nach Hause gekommen. Danach brachte man mich nie wieder in einen Kindergarten.
Die Frau fragte uns auch, wo unsere Papas seien. Als sie erfuhr, dass mein Papa bei Moskau verschollen war und der von Pawlik bei Leningrad kämpfe, begann sie zu seufzen und uns zu bemitleiden und sagte plötzlich: -Wisst ihr was, Jungs, ich gehe gerade zu einem Fest in die Schule. Wollt ihr mit?
Sicher wollten wir mit! Obwohl ich mich genau erinnere, dass weder Pawlik noch ich sofort verstanden, was für ein Fest das war. Sofort wollten wir zu unseren Omas laufen und um Erlaubnis bitten, aber die Frau sagte:
- Eure Omas werden euch erst die Gesichter waschen, euch kämmen und umziehen. Wir könnten zu spät kommen und nicht mehr reingelassen werden. Lasst uns heimlich gehen! Auf dem Fest werdet ihr statt eurer jetzigen neue, saubere, festliche Kleidung bekommen: Halbschuhe, feine Hosen, weiße Hemden, Jacketts, warme Socken, schöne Mäntel, gestrickte Mützen und Fäustlinge! Ihr werdet nach Hause zurück kommen und erzählen, dass ihr mit Tante Dussja bei einem Fest in der Schule wart, wo ihr alles Neue bekommen habt, weil eure Papas an der Front kämpfen. Wart ihr schon einmal auf einem Fest?
Nein. Nicht nur, dass wir noch nie auf einem Fest gewesen waren - wir konnten uns kaum etwas darunter vorstellen. Als der Krieg begann, war ich doch gerade vier Jahre alt! Und doch war das Wort “Fest” so vielversprechend und fröhlich, und Tante Dussja schien uns sehr nett zu sein.
Ohne zu zögern gingen wir also mit ihr mit. Auf dem Weg gab sie uns weitere Sonnenblumenkerne und erzählte, dass es beim Fest einen Tannenbaum geben würde und dann noch Väterchen Frost und seine Enkelin Snegurotschka, und dass man allen Geschenke geben würde.
Aber sicher! Man hatte uns viel über den Tannenbaum und Väterchen Frost erzählt. Wer kennt nicht das Lied vom kleinen Tannenbaum? Pawlik und ich wurden ganz fröhlich und schauten Tante Dussja mit verliebten Augen an.
- Tante Dussja, welches Geschenk gibt man uns?
Tante Dussja begann aufzuzählen, dass man solch guten Jungen wie uns Äpfel, Kekse und Schokoladenbonbons schenke, und obendrein sogar noch ein Spielzeug: ein Auto, ein Flugzeug, eine Pistole. Danach lächelte sie listig und sagte: - An das heutige Fest werdet ihr euch euer ganzes Leben lang erinnern! Und das war die Wahrheit.
Die Frau schaute sich die ganze Zeit auf dem Weg nach rechts und links um und trieb uns zur Eile. Wir liefen sehr schnell, ich schwitzte, weil ich wie Pawlik meine Winterkleidung anhatte, eigentlich für Moskauer Kälte gedacht: Pelzmantel, Filzstiefel, Pelzmütze.
Als die Strelkowaja-Straße zu Ende war, drehte sich die Frau um, und ich sah, dass sie plötzlich sehr blass war und auf ihrer Stirn unter dem dünnen Kopftuch große, durchsichtige Schweißtropfen standen. Ich blickte zurück und sah meine Oma aus dem Tor von Philipp Philippytschs Haus treten. Jetzt nahm mich Tante Dussja an der Hand, wir bogen nach links ab und liefen schnell die Straße herunter, in der Straßenbahnen hin und her fuhren. Mir wurde ganz heiß, und ich zog meine Fäustlinge aus. Tante Dussja nahm wieder meine Hand und sagte: -Sei vorsichtig! Sonst kommst du unter eine Straßenbahn!
Das wunderte mich sehr, denn wir gingen doch auf dem Bürgersteig, und die Straßenbahnen fuhren mitten auf der breiten Straße, aber ich sagte nichts. Ich merkte nur, dass Tante Dussjas Hand kalt und ganz nass war. - Warum ist Ihre Hand so? - Wie so? - Ganz kalt und nass! Ist Ihnen nicht heiß?
Die Frau schaute sich wieder um. -Sprich keinen Unsinn! Natürlich ist mir heiß! Aber wir kommen zu spät, und ich rege mich auf, weil ich es nicht mehr schaffe, euch umzuziehen. - Nicht nötig! - meine Pawlik. - Uns wird es auch so interessant sein. - Wieso nicht nötig? - regte sich die Frau staunend auf, ihre Augen wurden klein und schmal, lange Falten bildeten sich auf ihrer Stirn, und die buschigen Augenbrauen bewegten sich auf und nieder. - Alle Jungen und Mädchen werden schön angezogen kommen, und man wird ihnen Geschenke geben, und euch wird man nichts geben! Und vielleicht gar nicht erst reinlassen! - Lasst uns rennen!- schlug ich vor. Aber Tante Dussja blickte sich wieder um. -Nein, nein! Ihr dürft nicht rennen, sonst werdet ihr zu sehr schwitzen und euch erkälten. - Wir schwitzen jetzt schon! - meinten Pawlik und ich. -Trotzdem, nein!
Ich wunderte mich sehr, denn genau so sprach meine Oma immer, das sagte ich auch Tante Dussja. Diese drehte sich um und sagte: -Man soll auf die Oma hören! - Aber unsere Omas haben uns befohlen, am Tor zu warten, und wir sind ohne Erlaubnis mit Ihnen weggegangen! - Pawlik atmete schwer, weil er so dick war. Die Frau wunderte sich, dann lächelte sie und meinte, dies sei ein besonderer Fall, weil Feste nur sehr selten seien, weil jetzt Krieg sei und alle es schwer hätten.
Ich war überrascht und fragte: -Kommen wir bald an? -Bald, bald!
Wir gingen sehr schnell noch ein wenig weiter, dann drehte sich die Frau ein letztes Mal um und zog uns in einen großen Hof hinein. Rechts stand ein großes Haus, das einer Schule ähnelte. Man hörte gut, dass dort viele Jungen und Mädchen schrien, lärmten, herumliefen, lachten - mit einem Wort: fröhlich spielten. Pawlik und ich wollten sofort dorthin gehen, aber Tante Dussja drückte meine Hand fester und zog uns in die am weitesten entfernte Ecke des Hofes. -Gleich, gleich, Jungs. Habt noch ein wenig Geduld, dann werden wir zum Fest gehen!
Wir kamen an niedrigen Lehmhäuschen vorbei. Dann endeten die Häuschen und wir sahen eine kleine Holzbude. Tante Dussja öffnete die Tür, schaute sich um und schob uns schnell in die Bude hinein. Dann trat sie selbst ein und verschloss die Tür mit einem Haken.
- Tante Dussja, das ist doch ein Plumpsklo! - sagte Pawlik ganz leise. –Sicher, sicher. - Die Frau lächelte und öffnete schnell ihre Tasche. Ich glaubte erst, sie hätte unsere Festkleidung darin, aber die Tasche war leer. - Zieht euch aus, Jungs! Legt eure Kleidung in die Tasche; ich bringe euch stattdessen die neue Festkleidung.
Ich zog schnell Pelzmantel, Schal und Mütze aus.
- Ich will mich nicht ausziehen! - sagte Pawlik. -Und es stinkt hier!
Es wurde mir kalt, ich war ganz nass vom Schweiß und hatte Durst.
Tante Dussja ließ mich alles ausziehen, Filzstiefel, Hose, Jäckchen, bald stand ich nur noch in Strümpfen, Gürtel, einer Unterhose und einem Unterhemd. Es war sehr kalt.
Pawlik heulte los und öffnete die Knöpfe seines Mantels. Tante Dussja half ihm beim Ausziehen, streichelte ihm den Kopf, wischte mit einem Tuch seine Tränen ab und legte unsere gesamte Kleidung in ihre große Tasche. Dann küsste sie erst mich und dann Pawlik und sagte: - Seid brav, bleibt hier ganz still! Ich laufe zur Schule und hole die neue schöne Festkleidung statt eurer!
Sie wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn, rückte ihr Kopftuch zurecht, nahm die Tasche mit unserer Kleidung und ging hinaus, und dann - ich wusste nicht, wieso - verschloss sie die Tür von außen mit dem Haken.
Als die Schritte von Tante Dussja verhallten, wurde es sehr still. Der Straßenbahnlärm erreichte uns nicht, das Stampfen und Schreien aus der Schule hörten auch fast auf. Dafür hörten wir, wie ein zischender Nieselregen auf das Dach ging, und durch einen Spalt in der Tür sahen wir, dass es auch noch schneite.
-Pawlik, als wir gingen, hat es da etwa schon geregnet? - Ich habe nichts bemerkt. Aber es war nass, meine Füße sind ganz nass, und mir ist furchtbar kalt. - Mir auch! - Kommt Tante Dussja bald? - Weiß ich nicht. Lass uns sie laut rufen! - Nein, sonst wird sie böse auf uns!
Wir drückten uns fest aneinander und begannen zu zittern. Es war sehr kalt, wir weinten und hatten Durst, aber wir glaubten immer noch an Tante Dussja und wollten auf das Fest. So warteten wir schweigend - lange, sehr lange.
Der Regen hörte auf, es fing an zu schneien. Der Schnee flog durch das Fenster über der Tür zu uns herein, es wurde immer kälter. Wir waren schon ganz durchgefroren, die Zähne klapperten ganz von allein, als wir endlich auf dem Hof Schritte hörten. Wir zitterten noch stärker und beinahe hätten wir vor Freude geweint. Die Schritte kamen näher, dann begann ein alter Mann zu husten und sich zu schnäuzen. Da bekamen wir Angst, schrien laut, weinten los und riefen nach Tante Dussja.
Die Tür ging auf, und wir sahen einen alten Usbeken im warmen Mantel.
- Was macht ihr hier denn ganz nackt? - fragte er und hustete wieder. Pawlik antwortete, dass wir auf Tante Dussja warteten, dass sie uns gleich Festkleidung bringen werde und wir auf das Fest in die Schule gehen und Geschenke bekommen würden. Der alte Mann geriet in Aufregung und wollte uns mit sich mitnehmen, aber wir schrien, dass wir auf Tante Dussja warten und nirgendwo ohne sie hingehen würden. Da nahm uns der alte Mann an den Händen und führte uns zu den niedrigen Lehmhäuschen, während wir zitterten und weinten.
Aus den Häuschen kamen viele Frauen, Greise und Kinder heraus, alle seufzten und bemitleideten uns und schimpften aus irgendeinem Grund auf Tante Dussja. Mich wickelte man in ein großes, graues und sehr warmes Tuch, Pawlik wurde in eine Decke eingehüllt. Trotzdem zitterten wir und bekamen vor Kälte einen Schluckauf.
Danach erzählten wir, wo und mit wem wir wohnten, und man brachte uns zurück zur Strelkowaja-Straße zu unseren Omas.
Es stellte sich heraus, dass die Omas überhaupt nicht auf den Markt gefahren, sondern zur Polizei gelaufen waren, damit diese uns suchte - aber wir waren ja schon gefunden.
Das Erstaunlichste war, dass weder ich noch Pawlik krank wurden. Dafür sahen wir beide Tante Dussja noch öfter, aber wir drehten uns immer weg und grüßten sie nicht. Sie grüßte uns auch nicht.
Geschrieben 1971 in Moskau